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474 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 8. Höft. (August 1905.)
auf gewisse hervorragende Charakter eigen schalten und auf
kleine Talente. Es kann z. ß. wohl vorkommen, dass
eine im sittlichen Sinne grosse Seele, deren Grösse in einer
Verschmelzung von Sanftmut, Liebe, Selbstentäusserung
und Opferfreudigkeit besteht, und die ihr Leben hindurch
auf ihre ganze Umgebung erwärmend und stärkend wirkte,
— der ferneren Mit- und Nachwelt unbekannt, ja in ihrem
wahren Werte von der Umgebung selbst unerkannt bleibt.
So kann namentlich manche hehre Frauengestalt vorüberwallen
, ohne dass man von deren segensreicher Wirkung
in der Oefientlichkeit Notiz nimmt. Nun könnte man freilich
voraussetzen, dass unter Umständen eine solche sittliche
Kraft in der Nachkommenschaft als geniale Intelligenz
wieder erscheinen werde, etwa wie sich Wärme in
mechanische Kraft, Elektrizität usw. umwandelt. Aber abgesehen
davon, dass es sich bei unserer Frage zur Zeit
eben nur um Voraussetzungen handelt, ist es ja klar, dass
wahrhafte sittliche Grössen damit eben selber zu den Genies
zu rechnen sind und auch ihr Erscheinen ins Gebiet des
Rätselhaften gehört Denn was wir z. B. von grossen Heiligen
wissen, deren Grösse durchweg oder wenigstens zumeist
in ihrem edlen Charakter lag, bestätigt uns nur, dass
auch ihre ausserordentliche Kraft meteorartig erschien,
ohne dass sich bei Vorfahren und Nachkommen ein Aehn-
liches gezeigt hätte. Und was schliesslich die kleinen Talente
betrifft, so ist hier von ihnen eigentlich überhaupt
nicht die Bede. Die grossen hingegen lassen sich durch
keinerlei Ungunst des Schicksals im Dunkeln verbergen.
Der geniale Maler, Musiker, Dichter usw. bekundet seine
künftige Meisterschaft schon vor jeglicher Anweisung und
seine Kraft arbeitet sich unaufhaltsam ans Tageslicht hervor
, trotzdem sie bekanntlich öfters mit den widerwärtigsten
Schicksalen zu kämpfen hat. Verlautete also von ihr nichts,
so war sie eben einfach nicht da.
Und was des Weiteren zu bedenken ist —, es sind
geniale Menschen ersten Ranges zu solchen Zeiten erschienen
, wo ihnen nicht bloss in ihrem Geschlecht, sondern
im Volke, ja in der ganzen Menschheit notorisch keine nur
halbwegs ebenbürtigen Vorläufer vorangingen, was sich
mit besonderer Klarheit an dem an Kopfzahl so geringen,
aber grenzenlos und vielseitig genialen Volke der alten
Griechen feststellen lässt. Im Laufe weniger Jahr-
hunderte taucht allda eine unglaubliche Menge bis dahin
noch nie gesehener Sterne erster Grösse auf, und zwar
in allen möglichen Fächern des menschlichen Wissens und
Könnens. In diesem Stücke stehen wir auch heute noch
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