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Die psychischen Epidemien des Mittelalters, 503
schaudern machen. Diese Psychosen des Mittelalters ergriffen
seltsamerweise die grossen Massen; man kann von
psychischen oder geistigen Epidemien sprechen. In
einer kurzen Darstellung dieser Massenerkrankungen, die
uns heute nahezu unbegreiflich erscheinen und allerdings
geeignet sind, den Aberglauben und die Dämonen- und
Teufelsfurcht jener Zeit zu erklären, folgen wir der interessanten
Publikation des Königsberger Professors Dr. R.
Zander. (\,Vom Nervensystem." Aus Natur und Geisteswelt.
Leipzig, B. G. Teubner 1904.) Solche Epidemien, von denen
hier die Eede sein soll, sind die Geisslerbruderschaften
oder der Flaggellan tismus, die Kinderfahrten
und d»e Tanzwut des Mittelalters.
Durch die Bettlerorden war die G e i s s e 1 u n g, die
von Päpsten und berühmten Kirchenlehrern als ein vorzügliches
Buss- und Gnadenmittei dringend empfohlen war,
volkstümlich geworden. Im Jahre 1261, zu einer Zeit, da
in Italien die grösste Sittenlosigkeit herrschte, ergriff, wie
die „Monachi Patavini Chronica" berichtet, plötzlich eine
bisher unerhörte Frömmigkeit zuerst die Einwohner von
Perugia, sodann die ßömer und endlich fast alle
Völkerschaften Italiens. Edle und Unedle, Alte und Junge,
sogar junge Kinder zogen zu Hunderten und Tausenden
des Nachts mit brennenden Kerzen, die Priester mit
Kreuzen und Fahnen voran, selbst im strengsten Winter
nackt durch die Strassen der Städte in Prozession umher,
peitschten sich unter Seufzen bis aufs Blut, riefen heulend
die Barmherzigkeit Gottes an und warfen sich demütig vor
den Altären nieder. Einige dieser Züge gingen selbst über
die Alpen und fanden in Krain, Steiermark, Oesterreich,
Böhmen, Mähren und Ungarn Nachahmung. Als die Pest,
der schwarze Tod, im Jahre 1348 von Asien her
durch ganz Europa zog, wurde auch in Deutschland durch
jenes vermeintliche göttliche Strafgericht die Geisseiwut
überall geweckt. Es taten sich Geisslervereme zusammen
und zogen, Busse predigend und sich kasteiend, von Ort
zu Ort. Die Scharen wuchsen lawinenartig an. Geistliche
Lieder singend, geisselten sie sich mit knotigen, mit einge-
Üochtenen Nadelspitzen versehenen Geissein bis aufs Blut. —
Die sogenannten Kinderfahrten bestanden in
gemeinschaftlichen Wallfahrten vieler tausend junger Leute
beiderlei Geschlechts, meist von 12 bis 18 Jahren. Die
erste Kinderfahrt, die um das Jahr 1212 durch Sachsen,
Süddeutschland, über die Alpen bis ans Adriatische Meer
ging, beschreibt Aventinus in seiner Chronik. Ohne Führer,
ohne Lebensmittel, ohne Geld traten die jungen Schwärmer
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