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536 Psyohisohe Studien. XXX1L Jahrg. l>. Heft. (September 1905.)
Wurzel und Stamm der Seele ihre Kraft ziehen, andererseits
. Von zwei Menschen, welche ungefähr derselben Intensität
von Liebe (s. die vor. Anmerk.) fähig sind, kann der
eine durch den Verlust einer heiss geliebten Person dei-
massen überwältigt werden, dass er schier zu Grunde geht;
bei dem anderen hingegen arbeiten die dem Schmerzlichen
entgegengesetzten hellen Töne eines robusten Gemüts dem
Schmerz so lange entgegen, bis sich ein erträglicher
mittlerer Zustand einsteilt. Das Zerrbild einer solchen
naturgemässen und anhaltenden Neutraiisierung ist die
schon besprochene besänftigende Wirkung des Weines,
dessen Wirkungsweise keineswegs gleich in betäubendem
Rausch, also Schwächung, zu bestehen braucht, sondern
schon in der momentanen Stählung und Anregung der
Gemütskräfte hervortritt.
Worin besteht denn aber schliesslich das Kriterium
der Kraft, mit der geliebt wird? Ist etwa nicht eben
nur demjenigen die Fähigkeit einer heissen oder starken
Liebe zu vindizieren, der durch den Verlust einer geliebten
Person in seinem ganzen Wesen dauernd geknickt., ja
schliesslich lebensunfähig wird? Das wäre ein grosses
Missverständnis! Italiens Lieblingsheld und vielleicht am
wärmsten fühlender Sohn, Garibaldi, trug nicht umsonst die
hehre Ruhe seiner grossen patriotischen Seele auf seinem
bestrickend freundlichen Angesicht! Weder die Schmach
des Vaterlandes, noch die bittersten persönlichen Unglücksfälle
, noch der Schmerz um den Verlust seiner teuersten
Freunde und Mitstreiter konnten ihn jemals zur Verzweiflung
an seinem Lebensideai bringen. Die wahre Gewalt
der Liebe bekundete sich bei ihm in einer anderen höheren
Form: in der unaufhörlich vor seinem Bewusstsein stehenden
leuchtenden Idee der Befreiung des geliebten Heimatlands
von der Schmach der Fremdherrschaft, in seiner Un eigen -
nützigkeit und Todesverachtung.
Die Beständigkeit der Zuneigung, das Nimmervergessen
, die Aufopferungsfähigkeit, das Umschlagen
des momentan gewitterartig aufflackernden
Schmerzes in leitende Ideen und lebenspendende Handlungen
— da8 charakterisiert die echte Liebe einer
starken Seele, nicht das dumpfe Brüten, das Verzweifeln
stehenden Verwandten oder Bekannten; die Kraft der Liebe aber,
mit welcher der Mensch an seinesgleichen hängt, ist sehr verschieden
, je nach der Person, und so kann es z. ß. kommen, dass
der eine schon darch den Verlust eines alten Hausgenossen schmerzlicher
berührt wird, als ein anderer durch den Tod der nächsten
Angehörigen.
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