http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1905/0554
538 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 9. Heft. (September 1905.)
entschieden die glücklichsten, die, über ein solches starkes
Temperament verfügend, dabei entweder ein hartes oder ein
leicht vernarbendes Herz haben, oder deren Gefühl durch
besondere Umstände, einseitige Auffassung der Wirklichkeit,
betäubende Beschäftigung u. dgl. neben einem günstigen
äusseren Lebensgange — geblendet und zum Schweigen
gebracht wird. Die allseitig edel Angelegten hingegen bedürfen
jener Ergänzung, die der Glaube an eine „moralische
Weltordnung" bietet, da sie sich ohne dieselbe höchstens
zeitweilig, unter besonders günstigen, zufällig waltenden
äusseren Verhältnissen glücklich fühlen können; mit dem
Gedanken aber an eine solche Ergänzung kann ihr Seelenfrieden
trotz äusserem Unglück nicht nur dem der ersteren
Kategorie gleichkommen, sondern er übertrifft ihn schon
deshalb, weil er aus vielfältigeren und edleren Faktoren
(vor allem der Befriedigung gestillten Pflichtgefühls) zusammengesetzt
ist.
Schliesslich gelangen wir zu der folgenden Formel:
1) We m die hochgehenden Schwingungen des Nervensystems
(resp. die Kraft des Gemüts) die Schmerzen des Lebens
insoweit neutralisieren, dass der subjektive Durchschnittszustand
durch letztere nicht oder wenig behelligt wird,
dabei sich jedoch deren objektive Schätzung und das
Streben nach Beseitigung derselben keineswegs schwächt, —
dana haben wir es mit einer absolut fördernden, wohltätigen
Erscheinung zu tun, und die Gemütskraft erzeugt
eine doppelt heilsame Wirkung: das Gleichgewicht des Ich
(der Seelenfriede) wird nicht gestört, und solches wirkt
wieder auf die Energie der Tatkraft zurück. 2) Wenn schon
eine intensive Beschäftigung, indem sie den subjektiven
Zustand hebt und den Gedanken eine andere Kichtung gibt,
dem Menschen gewisse traurige Erinnerungen und Ueber-
zeugungen mehr als zulässig maskieren kann, so gilt
dies noch eher von den Freuden eines vergnügten Lebens,
wenn solche aui einen Punkt mehr, als dies zu dem
sonstigen Ernste des Weltgangs passt, konzentriert werden,
Ganz ebenso kann eine natürliche Leichtlebigkeit, also die
Freude, welche dem Sanguiniker sein eigenes Gemüt bringt,
das Traurige des Lebens zu sehr verdecken, d. h, wenn
das betreffende Ich entweder von Natur zu wenig sittlichen
Ernst und Schärfe des Blicks besitzt, oder glückliche
äussere Umstände dasselbe in einseitiger Verzückung befangen
halten ; allerdings muss man hinzufügen, dass letztere
Art von Ursachen meist nicht hinreichen, um einen Geist
von grosser Menschenliebe und grosser Umsicht auf
längere Zeit zu fesseln. Haben wir aber einen solchen
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1905/0554