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v. Sohimmelpfennig: Die offene Tür.
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und Bekannten. Ein halbes Dutzend Güter hatte ich schon
abgegrast, da machte ich mich nach Rombischken auf,
einem wundervollen Besitz der gräflichen Familie v. A. .
auf dem damals Graf Georg A.9 Major a. D, und Kriegskamerad
meines Vaters, wohnte. Der Graf hatte eine
Tochter aus erster Ehe, die liebliche Ellen, ein reizendes,
blondes Mädchen von 18 oder 19 Jahren, die mit dem Rittmeister
Baron B ... . der Petersburger Gardekavallerie,
einem Kurländer, verlobt war; in jenen Tagen sollte die
Hochzeit stattfinden. Graf A. Selbst war zum zweiten Mal
verheiratet mit einer Freiin C . . . ., einer Frau von mephistophelischer
Schönheit. Hatte Ellen blondes Haar,
blaue Augen und die regelmässigsten Züge, so war die
junge Frau — die höchstens drei Jahre älter war,
als ihre Stieftochter — braun an Augen, wie Haar,
und ihr Gesicht entbehrte jeder Symmetrie; trotzdem zog
sie sofort aller Blicke auf sich durch die wilde Grazie
ihres Wesens.
Graf A. und Herta, seine Gattin, lebten in der glücklichsten
Ehe, und derselbe freundliche Stern sollte auch
allem Anscheine nach über dem jungen Paare leuchten.
Baron B. überhäufte seine Braut mit Beweisen der Zärtlichkeit
, und Ellen betete den schönen Mann an, der einen
Kopf grösser wie sie war und von dem die Mär erzählte,
er habe einst ein wildes Pferd mit einem Faustschlage zu
Boden geworfen. Natürlich nur Märchen — aber charakteristisch
!
Schloss Rombischken liegt herrlich auf einer Anhöhe,
die sich steil aus der Memel erhebt. Ein Flügel ist auf
Granitfundament bis an den Strand herangeführt, so dass
man, wie in einem venezianischen Palast, aus den Fenstern
in das Wasser hineinspringen könnte. Ein prachtvoller
Park, im englischen Geschmack, umgibt den Herrensitz,
und drüben, jenseits der stolzen Memel, öffnet sich ein lieblicher
Blick in die weite Niederung und auf die Rom-
bischker Waldungen. Wir — etwa 20 bis 30 Hochzeitsgäste
, zumeist ostpreussische Landaristokratie und einige
Freunde des Bräutigams, verlebten entzückende Tage in
dieser anmutigen Gegend. Wasser- und Wagenpartien
wechselten miteinander ab, und am Vorabend der Hochzeit
führte uns ein Spazierritt weithin über die Besitzungen des
Grafen. Ich sehe sie noch alle: den alten Herrn auf
seinem bewährten Rappen, Ellen auf ihrem Falben, die
Gräfin auf einem unbändigen Scheck mit langem Schweif,
Baron B. auf herrlichem Goldfuchs, dem Geschenk eines
Grossfürsten.
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