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y. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre eto. 603
unter dieser Schar einige durch ihre Erfolge kühn Gemachte
mit der Behauptung auftreten, es gebe eben überhaupt
nichts ausser dem empirisch Erforschbaren, ja es
könne von keinem „ ignorabimus" (im Sinne von Dubais-
Reymond) die Rede sein, machen sie sich eines schmählichen
Denkfehlers schuldig, worauf wir gleich nachher
zurückkommen werden.
Die anderen fügen sich in die Unmöglichkeit, das
Rätsel zu lösen, finden aber bei ihrem Agnostizismus eine
Beruhigung in der Annahme, dass jene unbegreifliche Ur-
kraft eine unendlich hoch über uns stehende Vernunft sein
müsse, welche ihre guten Gründe gehabt haben werde, dem
Menschen einen Wissensdurst einzugeben und ihm doch die
Tür zum letzten Wissen zu verschliessen; dass er aber,
angesichts der sonstigen Zweckmässigkeit der Welt, in der
doch nichts ohne Grund oder umsonst da zu sein scheint, —
der Hoffnung leben dürfe, „dereinst" in Gestalt eines vollständigeren
Wesens dem Rätselhaften näher zu treten.
Stellen wir uns jetzt ein anderes Beispiel des Unbegreiflichen
vor Augen. Alles, was wir sehen, tasten usw.,
hat Anfang und Ende; sobald wir aber fragen, wo denn
das Ende des Ganzen, also der Welt, sei, — stossen wir
auf einen unversöhnlichen Widerspruch (im Sinne der Kanf-
schen Antinomien). Gesetzt, es gebe einen Ort, wo die
Himmelskörper und der dieselben in grösserem oder geringerem
Umkreise umgebende feinste Stoff (der sog. Aether)
ein Ende oder eine wirkliche Grenze hätten, so könnten
wir uns dennoch nicht vom Begriffe des sich noch über
diese Grenze hinaus erstreckenden Raums losmachen. Der
Raum bedeutet zwar ohne die in demselben wirkenden
Stoffe oder Kräfte allerdings nichts, denn wir können
ihn uns ohne jegliche, in oder um denselben befindliche
Dinge gar nicht vorstellen; wir können aber auch vermöge
der Einrichtung unseres Erkenntnisapparats der Vorstellung
nicht entgehen, dass, sobald es über jene Peripherie hinaus
eine Leere gibt, der Stoff sich gelegentlich auch noch
weiter in dieselbe ausdehnen oder sonstwie hineinwirken
könne („horror vacuia), und so weiter ohne Ende. Kurz,
wir können uns eine Grenze der Welt ebenso wenig denken,
wie man den sichtbaren Horizont erreichen kann, und
dennoch ist uns wiederum die Unendlichkeit unbegreiflich,
d. h. es bleibt uns der unbehagliche Widerspruch, dass
dasselbe Ding, dessen Teile wir nach Herzenslust an seinen
Enden befühlen und besehen können, als Ganzes keinerlei
Ende haben solle. Wir können uns also die Welt weder
endlich, noch unendlich vorstellen.
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