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608 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 10. Heit. (Oktober 1905.)
tischen Leben und sogar im Sehoss der Kirchen ergeben
werden. Und das alles kam in so kurzer Frist fast ohne
nennenswerte Organisation, mit schwachen Aktionsmitteln,
mit prekären Hilfsquellen zu stände, ohne andere organisatorische
Verbindung als diejenige, die im Jenseits zu bestehen
scheint, — und vielleicht ist das die beste von allen,
denn wir praktisch tätigen Spiritisten fühlen uns aufs
kräftigste unterstützt von der unsichtbaren Geisterwelt, wofür
ich hier vor jedermann öffentliches Zeugnis ablege.
Auf literarischem Gebiet zeitigte der Spiritismus eine
reiche Blüte von zum Teil sehr wertvollen Werken in allen
Sprachen, wie — um nur ein hervorragendes Beispiel zu
nennen — das des f Myers: „Die menschliche Persönlichkeit
und ihr Fortleben nach dem Tode", das neuerdings in
der Gelehrtenwelt bedeutendes Aufsehen erregt hat. In
Frankreich hört man heutzutage von hervorragenden
Männern der Wissenschaft, Cniversitätsprofessoren aller
Fakultäten, in ihren öffentlichen Vorlesungen den Glauben
an das Vorhandensein einer Geisterwelt aussprechen. So
äusserte sich z. B. Prof. Izoulet vom „Collöge de France",
als er im vorigen April auf die Pneumatologie oder Geisterlehre
zu sprechen kam, wörtlich: „Es gibt jedenfalls ebenso
viele oder noch mehr Stufen geistiger Entwickelung
über uns, als es solche unter uns gibt."
Und die Kirchen? Ich sprach ja von den Kirchen
und man wird sich ohne Zweifel darüber wundern. Aber
ich will mich erklären, indem ich sage, dass die spiritistische
Idee auch bereits in die widerspenstigsten und am schroffsten
orthodoxen Umgebungen eingedrungen ist und dass
die Gedankenwelt der Priester und der Pastoren in weiten
Kreisen spiritistisch angehaucht ist. Auf protestantischem
Gebiet gibt es unter den Geistlichen zahlreiche Anhänger,
besonders in Amerika, England und Holland. So schreibt
mir ein hervorragender Pastor der reformierten Kirche in
Frankreich, der eine evangelische Revue herausgibt: „Ich
habe eine Ahnung, dass der Spiritismus ganz wohl eine
positive Religion werden könnte, zwar nicht nach Art der
geoffenbarten Religionen, aber als Religion im Sinne eines
neuen Glaubens auf Grund experimentell festgestellter Erfahrungstatsachen
, die mit Vernunft und Wissenschaft in
vollem Einklang stehen." —
Und das katholische Milieu ? Hier sind die Anhängerschaften
schwerer zu konstatieren, weil dort eine eiserne
Disziplin auf Grund des Autoritätsprinzips herrscht. Aber
trotzdem kommt die sich im Verborgenen vollziehende
Geistesarbeit auch dort dann und wann an den Tag. Ich
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