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658 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 11. Heft. (November 1905.)
dennoch aber können wir uns etwas „dahinter", d. h. ohne
Zeit, ebenso wenig wie einen leeren Baum vorstellen, weshalb
eben Kant Raum und Zeit für die subjektiv notwendigen
Anschauungsformen der menschlichen Erkenntnis
erklärte. Die einzige Aushilfe dabei ist, dass wir eine Zeit
annehmen, wo die Erscheinungswelt noch im absoluten
Stillstand lag (Chaos); in diesem Falle müssen wir aber
das Vorhergehende in eine unbegreifliche Urkraft des Weltalls
oder in ein Urwesen legen, das im Anfang der Dinge
den schöpferischen Anstoss gab, wobei aber das „Vorhergehende0
auf diese Kraft oder dieses Wesen übertragen
wird, was also für unsere nach einem Abschluss verlangende
Vernunft im Grunde dieselbe Unbegreiflichkeit bleibt.
Eine der grössten ünbegreiflichkeiten aber bleibt dem
denkenden Geiste sein eigenes Wesen oder das
,Woher" und „Warum14 seiner seelischen Tätigkeiten. Der
JPhysiolog mittleren Schlags glaubt Wunder wie weit gekommen
zu sein, wenn er demonstriert, dass diese Tätigkeiten
nie ohne Nervensubstanz zum Vorschein kommen
und dass, je tiefer wir in die Kenntnis des Gehirns eindringen
, desto mehr Belege sich uns aufdrängen, wie sich
jede gegebene Denk- oder Gefühlsäusserung als F u n k t i o n
dieses oder jenes Gehirnteiles erweist Und doch ist dies
offenbar nur die Weiterentwickelung, bezw. Präzisierung
derselben Erfahrung, die man schon vor Jahrtausenden be-
sass, wo ja ebenso niemand daran zweifelte, dass, wenn
einem Tiere der Kopf abgehauen oder demselben durch
einen Hieb das Gehirn verspritzt wird, es mit dessen
Denken oder Fühlen ein Ende habe. Das eigentliche
Rätsel aber bleibt (auch nach den grausamsten, zur vermeintlichen
Erweiterung unseres Wissens in dieser Richtung
angestellten Vivisektionsversuchen) nach wie vor un-
erschlossen, und Schillert Worte:
„Und der erhabene Fremdling, der Gedanke,
Sprang aus dem staunenden Gehirn" —
haben einen tiefen Grund. Denn man fühlt sich tief unbefriedigt
bei dem Gedanken, dass man so ganz und gar
nicht einzusehen vermag, wieso denn gewisse Schwingungen
materieller Teilchen etwas diesen so durchaus Unähnliches,
Himmelskörper; denn überall sehen wir einen auf dem Wege immer
weitergehender Differenzierung fortschreitenden Wechsel
vom Einfacheren zum Komplizierteren; letzteres kann dann wieder
in einen Zustand relativen Ablebens, Rückschritts oder Stillstandes
geraten, der sich jedoch von dem anfänglichen dadurch unterscheidet
, dass er schon eine Eeihe von Begebenheiten hinter sich hat.
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