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v. Seelaad: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 663
baren und zwar planmässig wirkenden Kräfte der
Natur, sowie der Vernunft fliessen unmerklich aus dem
für das schärfste und umfassendste Denken unfassbaren
Urquell, oder, mit anderen Worten, das Begreifliche ist
selber ein Teil, bezw. die vordere Seite des Unbegreiflichen.
Kurz, einer solchen „ungläubigen" Richtung gegenüber muss
man unwillkürlich der schon von Kepler zitterten derben
Schriftworte gedenken: „Da sie sich klug dünkten, sind sie zu
Narren geworden." Daher liegt fast etwas Beleidigendes in der
Zumutung, mit der man, anstatt schlicht und offen das Unerklärliche
für solches anzuerkennen, sich anschickt, uns
dasselbe zu „erklärendie Erklärung aber notwendigerweise
die Vernunft noch viel weniger befriedigt, als jene
schlichte Anerkennung. So war es und so wird es fortan
mit allen Erklärungssurrogaten des Weltgeheimnisses
bleiben, von der zufälligen, nach unzähligen fruchtlosen
Kombinationen der Atome entstandenen Organisation der
Welt Demokrifs an bis zu den „selbstgemachten" Organismen
unserer Zeit. —
Wenn nun die Ueberklugen mit ihren Annäherungsversuchen
an die letzten Dinge stets zu Schanden werden,
wenn andererseits auch das einfache Ignorieren des Rätsels
uns den Eindruck einer nur aufgeschobenen, nicht
gelösten Frage macht, wenn obendrein das Unbegreifliche
nicht etwa einfach als ein wüstes Chaos, sondern als ein
planmässig angelegtes, d. h. als ein im Laufe der Zeiten
der Vervollkommnung fähiges und Dinge, wie die menschliche
Vernunft, erzeugendes Ganzes erscheint —, ist es da
nicht folgerichtig, dass die Vernunft des normalen Menschen
im Gedankengange der zweiten Richtung eine grössere
Befriedigung findet und sich ihr, nach zeitweiliger Abirrung
, immer wieder von neuem in die Arme wirft? Der
normale oder „gesunde44 Mensch wird hier einerseits durch
die Menschheit selbst repräsentiert, — denn was aus dem
Feuer der verschiedenartigsten Urteile, Proben und Angriffe
ungezählter Individuen und Generationen von Individuen
immer und immer wieder unversehrt hervorgeht, das
muss doch wohl das verhältnismässig Lebensfähigste und
Beste sein —; besonders aber sind hier jene wahrhaft
grossen Geister in Betracht zu nehmen, deren Lehren und
Taten für alle Zeiten passen, d. h. von denen nach Abstreifung
aller accidentiellen Hüllen, d. i. alles Unvollständigen
und Zeitlichen, ein ewig fortleuchtender Wesenskern
übrig bleibt. Denn nicht nur die Lehrsätze der
Mathematik behalten ihren Sinn seit den ältesten Zeiten;
auch in Philosophie, Ethik, Physik, Biologie u. s. t, des-
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