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v. Seeland: Die Logik der materalistiscbea Lehre etc. 065
ihr Unbewusstes dennoch zugleich „überbewusst*
nennen, so geben sie dem Leser sogleich unbewusster-
weise einen warnenden Wink, er solle es doch nicht gar
zu ernst nehmen mit einer Lehre, wo trotz manchen wirklich
fein durchdachten Nebendingen doch das Widersinnige
das Szepter führt.
Nicht nur die Vergangenheit zeigt zweifellos, dass der
Mensch auf die Dauer nie und nirgends ohne die Forderung
und die daraus hauptsächlich entstandene Annahme eines
Dereinst und eines vernünftigen Weltzwecks existieren
konnte, und dass jegliche Versuche, eine menschliche Gemeinschaft
auf der Basis der bloss „gegebenen Welt" zu
gründen —, bisher immer mit baldiger Auflösung derselben
endigte.
Schliesslich drängt uns also alles zu der logisch unvermeidlichen
Folgerung, dass auch der Zukunftsmensch,
namentlich der allseitig und am edelsten entwickelte,
immerdar, und zwar in steigender Potenz das Bedürfnis
ergänzender Ideale fühlen wird, ohne welche die gegebene,
sinnlich wahrnehmbare Welt ihren Wert unwiderruflich
verlieren müsste.
Ist dem aber so, entspringt dieses Bedürfnis dem
innersten Wesen des Menschen, dann wäre offenbar
das Todesurteil der Menschheit unterschrieben
, wenn es wirklich ein auf exakter Forschung
beruhendes Wissen gäbe, welches jenem Triebe Hohn
lachte und jeglichem „Glauben" die Wurzel abschnitte.
Denn fortan könnte nur der noch am Leben festhalten und
Kampfeslust bewähren , der noch nicht Klarheit gewann,
also noch von diesen oder jenen Illusionen hingebalten
würde; und Schiller's „Kassandra" würde Recht behalten,
wenn sie klagt: „Nur der Irrtum ist das Leben und das
Wissen ist der Tod." Da aber oflenbar der Fortschritt
der Menschheit es mit sich bringt, dass die Macht der Illusionen
immer mehr an Boden verliert, so dass schon heutzutage
bei so manchem Mann aus dem Volke die „Vernunft
" das Szepter führt und dunkle ,,Gefühle4' und
„Träumereien" zur Rede stellt, was in früheren Zeiten sogar
in den höheren Schichten eine Seltenheit war —, so
muss die Zahl derer, die ihren Lebensmut noch au der
Brust der Täuschung fristen, voraussichtlich immer geringer
werden.
Unberechenbar aber ist die Bedeutung des erschütterten
Gleichgewichts der Seele nicht nur für das äussere Handeln,
sondern auch für die Kraft und Gesundheit des
Leibes, wofür die Geschichte der Krankheiten, der Feld-
Psychisohe Studien. Noyeaiber 1905. 48
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