http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1905/0686
666 Psychische Stadien. XXXII, Jahrg. 11. Heft. (November 1905.)
züge usw. unzählige traurige Beispiele liefert. Ein Geschlecht
, welchem der Pessimismus zur unerschütterlichen
Wahrheit geworden, inüsste nicht nur jegliche Energie in
der Führung des Lebens einbüssen, sondern auch an physischen
Kräften mehr und mehr verkommen, ja die resoluteren
unter den „ Aufgeklärten" würden sich häufiger und
häufiger freiwillig ein Leben nehmen, das doch im Grunde
keine höhere Bedeutung und keinen weiteren Wert hätte,
statt ein unter Wehklagen sich hinschleppendes Dasein nach
dem Muster der pessimistischen und nihilistischen Philosophen
unserer Tage bis an sein natürliches Ende zu fristen.
Auch ist es mehr als wahrscheinlich, dass die, wie statistisch
feststeht, jetzt tatsächlich in allen zivilisierten
Ländern rapid zunehmenden Selbstmorde wenigstens zum
Teil mit dem Ueberhandnehmen jener trostlosen Weltanschauung
in Zusammenhang stehen.
(Schluss folgt.)
Zur Frage der psychischen Heilweise.
Von Prof. a. D. Hof rat Ilax Seiling* (Pasing)*)
Bei der grossen Rolle, welche die Krankheiten im
Leben der Kulturmenschheit trotz aller Fortschritte der
medizinischen Wissenschaft spielen, dürften Erörterungen
über die psychische Heilweise immer wieder am Platze
sein. Das psychische Heilverfahren gründet sich bekanntlich
darauf, dass das körperliche Befinden durch seelische
Zustände und Erreguugen, durch Willenskraft und sogar
durch blosse Vorstellungen beeinflusst werden kann. Insbesondere
hat sich der Glaubef dass ein gewisses Verhalten
oder gewisse Prozeduren einen bestimmten Erfolg
haben müssen, als helfender Faktor erwiesen. Der zur
festen Ueberzeugung gewordene Glaube vermag eben die
natürliche Heilkraft zu beschleunigter und ausserordentlicher
Tätigkeit anzuspornen. Hierauf beruht es, dass Erfolge
bei allen möglichen, auch bei ganz unrationellen Kurmethoden
vorkommen. Es ist daher eine sehr billige, den
psychischen Einfluss vollständig übersehende Weisheit, sich
über das Absurde der sogen. Gebetsheilungen und den
Hokuspokus der Sympathiekuren lustig zu machen. Ist
*) Mit gütiger Erlaubnis des Herrn Verf. aus „Die Propyläen"
(Literar. bell, flalbwochenschrif t, herausgegeben von Eduard Engels,
München, Nr. 72 er.). — Red.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1905/0686