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Seiling: Zur Frage der psychischen Heilweise. 671
der feste, unerschütterliche Glaube an diesen und die Herstellung
eines ruhigen, harmonischen Seelenzustandes; daneben
müssen natürlich alle groben Verstösse gegen die
naturgemässe Lebensweise vermieden werden. „Fröhlich
Gemüt — gesundes Geblüt* sagt schon ein altes Sprichwort
. Man pflege also heitere, Zufriedenheit erweckende
Gedanken. Wo dies durch die Lebenslage erschwert wird,
kann man durch die Einsicht in die Notwendigkeit alles
Geschehens zu schliesslicher Beruhigung gelangen, lasbesondere
müssen Furcht und Hass, da sie geradezu
vergiftend wirken, aus der Seele verbannt werden. Im
übrigen hat man sich gegen das Kranksein teils negativ,
teils positiv zu verhalten. Im einen Falle handelt es sich
darum, die Aufmerksamkeit von der Krankheit tunlichst
abzulenken und es sich überhaupt zum Grundsatz zu
machen, über Krankheiten weder zu sprechen, noch nachzudenken
. Das positive Verhalten besteht im konzentrierten,
lebhaften und immer wieder geübten Vorstellen des gesunden
Zustandes; dass dieser bei genügender Konzentration
vermöge der schöpferischen Kraft der Seele endlich
eintreten muss, hat uns schon Goethe mit den Worten versichert
: „Was wir in uns nähren, das wächst; das ist ein
ewiges Naturgesetz." Daneben gebe man sich häufig die
laut gesprochene Suggestion, dass man gesund ist (nicht
nur: dass man es werden will) und nicht krank werden
kann. Indessen verlange man nicht zu viel auf einmal und
vergewaltige die Vernunft nicht zu sehr. Wenn man einen
heftigen Schmerz empfindet, wird die Behauptung, dass
man ganz gesund sei, die nervöse Spannung eher vermehren
. In diesem Falle ist es besser, zunächst keinen
Widerstand zu leisten und den Schmerz als das Zeichen
eines Heilungsvorganges willkommen zu heissen. — Vermag
man nichts zu erreichen, dann fehlt es entweder an
einer harmonischen Gemütsverfassung, oder an der nötigen
Energie und Konzentrierungsfähigkeit, oder an anderen,
von der Forschung noch nicht erkannten Bedingungen;
denn die Seele scheint eben doch nur unter ganz bestimmten
Umständen auf den Körper wirken zu können.
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