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Kurze Notizen
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meine Freude. Plötzlich sagte P. Ä: „Herr N., lassen Sie
mich} bitte, einmal lesen." Es geschah. 8. las deutsche
und lateinische Druckschriften in jedem Buche, Schreibschrift
in Heften und Briefen, und sein Gesicht glänzte vor
Freude. „Junge," sagte ich, „wie hast du das gelernt?"
„Ich weiss es nicht, aber ich kann's!" Was aus dem
Knaben später geworden ist, weiss ich nicht/' („IL d. V."
Nr. 199 vom 12. X. 05.)
e) Abgestorbene Organe und schlummernde
Fähigkeiten. Ausserordentlich interessant ist eine Abhandlung
(„Les rudiments psychiques de l'homme"), die der
berühmte russische Gelehrte Metschnikow im „Bulletin de
FInstitut G6n6ral Psychologique" veröffentlicht. Vor allem
erinnert er daran, dass jede alte Stadt in ihren Strassen-
namen und im Charakter ihrer Bauten Spuren einstiger
Geschlechter, verschollener Personen oder fast vergessener
Ereignisse aufweist. Ueberhaupt gibt es in den Sitten und
Gebräuchen der Völker Europas eine Menge von Einzelheiten
, die uns ohne Kenntnisnahme von ihrem Ursprung
völlig unverständlich sind. Als Beispiel führt er das Vorurteil
an, das vielfach dagegen herrscht, sich im Mai zu
verheiraten; die Erklärung dafür liegt in dem Umstände,
dass bei den alten Römern in dem genannten Monat die
Beerdigungsriten der Uebeltäter stattfanden. Aber der
Menschenleib zeigt Spuren von weit älteren Zeiten: von
Zeiten, welche Myriaden von Jahrhunderten vor der geschichtlichen
Aera liegen; von Vorfahren in der Urwelt.
In unserer Nase, unseren Augen und Ohren gibt es Ueber-
bleibsel von rudimentären Organen, deren Gebrauch uns
vollständig abhanden gekommen ist, während er bei den
niedrigeren Tiergattungen noch besteht. Unsere Anatomie
kennt über hundert rudimentäre Organe, die uns heute
lediglich als Behelfe zum Studium des vorgeschichtlichen
Menschen dienen, aber keinerlei Verrichtungen zu üben
vermögen. Während jedoch diese Organe mit Hilfe des
Seziermessers unschwer sich entdecken lassen, ist es mit
grossen Schwierigkeiten verknüpft, uralte seelische oder
psychophysiologische Funktionen, die im Menschen weiterschlummern
, zu entdecken; aber unter gewissen Umständen
kann man sie immerhin wiedererwecken. Unser Professor
fragt: „Wie viele der Eigenschaften des Gorillas und
Schimpanse sind im Menschen erhalten geblieben ?u Vor
allem wohl die Furcht — der Grundzug von Mensch und
Tier. Unter der Einwirkung intensiver Angst vermögen
Menschen Fähigkeiten zu entfalten, die ihnen unter gewöhnlichen
Umständen völlig fernblieben. Der Hypnotismus und
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