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726 Psychische Studien. XXXII. Jahrg. 12. Heft. (De*ember 1905.)
passen, welche der aufsteigenden Entwicklung
des übrigen Universums entspräche und unendlich
vernünftiger wäre,alsdieAnnahmeeinerauf
ein kurzes Erdenleben, auf eine oft unverschuldete
Schuld oder auf ebenso unverdiente
Verdienste folgenden ewigen Verdammnis
oder Seligkeit. Es ist dies die
uralte Lehre von der Seelen wander ung
oder richtiger: Wiederverkörpernng. Doch musste
auch sie eben Theorie bleiben, ja die Ansicht unseres reiferen
Zeitalters geht dahin, sie in die Kategorie der unnützen
Träumereien zu schieben, da man ja an keinem Menschen
etwas bemerke, was darauf hinwiese, dass er schon früher
einmal gelebt hätte; namentlich fehle das, was dabei doch
unerlässlich wäre —, die E r i n n e r u n g. Denn alles, was
hier und da von dergleichen angegeben wurde, z. ß. die Erinnerung
an ein früheres Leben, welche den Pythagoras beim
Betrachten eines gewissen Schildes einer alten Rüstkammer
ergriffen haben soll, ist leicht durch Selbsttäuschung zu erklären
.
Dennoch sprachen stets auf Seiten dieser Hypothese so
manche allgemeine Betrachtungen für die Möglichkeit einer
Wiederaufnahme eines individuellen Geistes in einem neugeborenen
Individuum, dass nicht nur ganze grosse Völker
bis auf den heutigen Tag fest an sie glauben (z. B. die
Hindus,*) die Chinesen und Tibetaner), sondern dass selbst
so manche hervorragende Denker der Neuzeit sich ihr zuneigten
oder sich offen zu ihr bekannten. So verknüpft
Lessing seine Erziehung des Menschengeschlechts mit derselben
, und verschiedene (zum teil schon früher berührte)
Stellen in Goethes Werken lassen sich nur im Sinne einer
Seelenwanderung deuten.
In unserem Jahrhundert widmete P. Leroux diesem
Gegenstand ein ganzes Buch, welches jedoch wenig Anklang
fand, da es im Grunde nicht über das bisher Bekannte
hinausging. In der letzten Zeit hat namentlich auch der geistvolle
Baron Hellenbach den alten Reinkarnationsgedanken
*) Nur geriet bei diesen jener Glaube bald auf phantastische
Abwege, was z. B. von der vorausgesetzten, ganz unnützen Bückwanderung
einer Menschenseele in den Körper von Tieren gilt. Die Chinesen
nehmen an, die Seelen ihrer verstorbenen Väter kehren nach
mehreren Generationen als neugeborene Menschen wieder. Dass die
buddhistischen Chinesen an die Seelenwanderung glauben, ist selbstverständlich
. Die lamaistischen Tibetaner sind bekanntlich fest
überzeugt, dass die Seele des gestorbenen Dalai-Lama sofort in ein
neugeborenes Kind fahre. (Vergl. vor. Heft, K. Not /), S. 688 ff.
— ßed.)
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