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Hübbe-Schleiden: Offenbarung und Forschung.
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Bedürfnis; vielleicht gilt es mitzuwirken daran, dass die
Menschheit zur Erkenntnis höchster Ideale und zuhöchst
zur Wahrheit und zur vollen Wirklichkeit
fortschreitet.
Allerdings ist es eine geschichtlich anerkannte Tatsache
, dass alle geistigen Bewegungen als Unterlage neuer
Illusionen und Zielpunkte der Einbildungskraft bedurften.
Aber solche Vorstellungen haben nur persönlichen
Bestand und pflanzen sich nur individuell fort, wenn
sie nicht durch theoretisch stichhaltige Gründe der Vernunft
und durch die wissenschaftliche Erforschung
allgemein gesichert sind.
Als Beispiel, an dem diese Frage sich veranschaulichen
lässt, mag sich die Lehre der Palingenie*) darbieten;
das ist die Erkenntnis, wie sie Lessing am Schluss seiner
„Erziehung des Menschengeschlechtes4* darstellt. Danach
geht nicht nur die ganze Menschheit, sondern jedes
Menschenwesen durch vielfache Wiederkehr ins Erdenleben
seiner göttlichen Vollendung in der Ewigkeit entgegen.
Für die Menschheit insgesamt ist heute, ebenso wie seit
uralter Zeit, diese Erkenntnis ein selbstverständlicher Gemeinbesitz
. Eine Ausnahme davon macht nur die
Kultur der Völker und der Rassen, die sich aus dem althebräischen
Gedankenkreise ableiten. Ausser dem Juden-
tume selbst sind dieses die der christlichen und
mohammedanischen Kultur« Für diese trat die
Lehre der Palingenie besonders seit der Mitte des vergangenen
Jahrhunderts als erneute Offenbarung auf. Es ist
dies eine „Mutation" in den bestehenden Anschauungen.
Wird sich nun diese Begriffsvariation ausprägen und befestigen
? Wird sie sich andauernd bewähren und erhalten
?
Heutzutage widersprechen sich die Offen-
barungenu in Hinsicht dieser Lehre, und die Meinungen
sind demgemäss geteilt. Was wird n»\. %vt ~ ih?ü A n erkennung
als Wahrheit und Wiudiohkeit entscheiden?
Doch nur wissenschaftliche Erforschung!
Die Vertreter dieser Offenbarung suchen sie mit philosophischen
Beweisgründen zu stützen. Aber diese
Gründe tragen selbst nur wieder den Charakter eigener
Offenbarungen des inneren Bewusstseins; sie sind aus
*) Vergl. zu den folgenden lichtvollen Ausführungen unsere
Anmerkung zu Seeland'** Stellungnahme zur Lehre der Wiederverkörperung
im Dez.-Heft v. J. S. 727. — Red.
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