http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0037
Hübbe-Scbleiden: Offenbarung und Forschung. 27
Ein zweites Argument für menschliche Palingenie (bei
Tieren palingeniert nur der Arttypus in den Individuen
jeder Art) ist, dass die Kinder ihren Eltern nur in
Einzelheiten ähnlich, aber oft in Anlagen des Geistes und
Charakters sehr unähnlich sind. So gleichen auch die
Kinder von denselben Eitern, sogar Zwillinge, einander
oft sehr wenig oder garnicht. Solche Unterschiede
zeigen sich besonders darin, wie verschieden die Veranlagungen
des „Gewissens* funktionieren bei Geschwistern
, die doch unter gleichen Umständen erzogen und
herangewachsen sind; und noch mehr zeigt sich solcher
Unterschied beim eruptiven Aultreten eines Genies:
eines Mozart, eines Goethe, eines Bismarck.
Noch andere Argumente sind die, dass im inneren Be-
wusstsein aller Menschen der Antrieb zur eigenen Vervollkommnung
lebt. Was davon in einem Erdenleben
zu erreichen ist, mag kaum der Mühe wert sein, wenn
sich solches Streben nicht in weiteren Erdenleben fortsetzte.
Auch der den Menschen eingeborene Glaube an ihre
Unsterblichkeit spricht für Palingenie. Sagte doch
selbst der grösste Zweifler aller Zeiten, David Hume: „Palingenie
ist das einzige philosophische System der Unsterblichkeit
, das sich hören lässk*)
Beweisgründe von dieser Art sind eine ganze Reihe für
die Lehre der Palingenie zu produzieren. Ist es aber auch
der Mühe wert, sie auszuarbeiten? Wird man damit je die
Ueberzeuguug von der Wahrheit solcher Tatsache im
Geistesleben unserer Kultur begründen können? Kann
solche Zusammenstellung irgend eine Wirkung auf kritische
, wissenschaftlich denkende Männer ausüben? Kann
sie die Führer unserer Kultur beeinflussen? Ist sie geeignet
als Grundlage unserer Geisteskultur zu dienen?
Die Antwort auf diese Zweifel kann nur ein entschiedenes
: Nein! sein.
Solche Ausführungen haben auch bisher nur Dichter
und Gemütsmenschen oder intuitiv Vera rgte "geWüFüeil:
Warum ist das so?
Die Führer unserer Kultur, die ihre Anschauungen
nach stichhaltigenVernunftgründen ausbilden
und die eben dadurch auch den massgebenden Einfluss auf
die Anschauungen ihrer Zeitgenossen ausüben, erwidern auf
all solche Argumentationen, dass sie durchaus unkritisch
sind, weil sie offenbar Unmögliches behaupte«.
*) David Hume: „Essay and treatises*, Essay on suieide, Basel
(James Dicker) 1799, pag, 23.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0037