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6G Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 2. Heft. < Februar 1906.)
sie sollen das Baumaterial für jedes wissenschaftliche System
liefern. Indem man sie klassifiziert und zerlegt, wird der
ursächliche Zusammenhang vielleicht entdeckt und darauf
mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit eine Theorie
zur Erklärung der Tatsachen gebaut werden können.
Welche Erscheinungen werden wir als Tatsachen anerkennen
? Es liegt auf der Hand, uns dazu auf unsere
Sinnesorgane zu verlassen. Wenn wir bloss dasjenige anerkennen
, was wir mit den Augen seheu, mit den Ohren
hören und mit den Händen tasten können, so werden wir
uns vor dem Aufstellen unbegründeter Hypothesen hüten.
Unsere Sinnesorgane müssen uns den Weg der Wissenschaft
abgrenzen. Sie müssen unsere Führer sein und für genügend
erachtet werden, um uns mit allen Erscheinungen bekannt
zu machen, welche sich in unserer Sphäre zeigen können.
Wir müssen also diesen Führern ein grosses Vertrauen
entgegenbringen. Verdienen sie es aber auch? Leider
muss anerkannt werden, dass sie uns manchmal täuschen
und dass unsere Wahrnehmungen selten der Wirklichkeit
entsprechen. Die Erde macht uns den Eindruck der Un-
beweglichkeit, allein in Wirklichkeit dreht sie sich um ihre
Achse und beschreibt ihre Bahn um die Sonne mit einer
Geschwindigkeit, die so gross ist, dass unsere Eisenbahnen,
damit verglichen, einen Schneckengang gehen. Jeden Tag
sehen wir Sonne, Mond und Sterne ihre weiten Bahnen am
Firmament beschreiben; es ist nur Schein. Bei Sonnenuntergang
sehen wir die feurige Sonnenscheibe noch über
dem Horizont, wenn die Sonne selbst bereits dahinter verschwunden
ist. Das Auge erfreut sich an der herrlichen
Farbenpracht der Natur, allein in Wirklichkeit gibt es
kein Licht, es bestehen bloss Aetherschwingungen, welche
eine rein mechanische Arbeit verrichten. Das Gehörsorgan
bringt den Eindruck reiner harmonischer Laute zustande;
in Wirklichkeit überträgt die Luft Schwingungen, die an
sich lautlos sind. Wir glauben feste Körper zu berühren,
allein der härteste Stahl besteht aus einer Zusammensetzung
beweglicher Atome, die durch Zwischenräume von
einander geschieden sind. Wir sprechen von Wärme und
Kälte, allein im Weltall besteht bloss ein Unterschied in
der Bewegung.
Unsere Sinnesorgane geben also die Wirklichkeit nicht
wieder, im Gegenteil, sie täuschen uns immer wieder. Aber
noch mehr. Unsere fünf Sinnesorgane sind ganz und gar
ungenügend. Sie lassen uns bloss eine geringe Anzahl der
Luft- und Aetherschwingungen wahrnehmen, in welchen das
Leben des Weltalls sich offenbart.
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