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110 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1906.)
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wissen Teilen sich stetig der Sonne zuwenden. Gelehrt
nennt man das Liehthunger oder Heliotropismus. Aber
nicht nur Hunger nach dem Lichte haben die Pflanzen,
sie haben auch Hunger nach sehr realer Kost. Anschaulich
, fast dramatisch, schildert France diese Lebenstätigkeit
gewisser Pflanzen. „Die Pflanze führt genau so viele Bewegungen
aus , als sie zum Leben braucht. Jetzt wissen
wir, warum sie gewöhnlich starr und ruhig ist — ihr einfaches
* Leben braucht diese Anstrengungen nicht. Kann
sie sich aber nicht anders helfen, nun, da erschauert sie
nur so vor zitternder, überquellender, ungeduldiger, ja
heftiger .Regsamkeit: — ist es notwendig, greift sie ebenso
blitzschnell zu, wie das Tier.
Es gibt bekanntlich Pflanzen, die Insekten verzehren,
und diese bewahrheiten alle diese etwas unglaublichen Behauptungen
. Mit der animalischen Lebensweise kommt auch
die tierische Gier und Beweglichkeit. Eine dieser, den
poetischen Namen Sonnentau (Drosera rotundifolia)
führenden Raub- und Mordpflanzen ist für den Naturfreund
gar nicht so schwer erreichbar. In den Mooren um Hamburg
und Hannover wächst sie ebenso wie in den Sümpfen
des Oderbruches und des Spreewaldes, den Hochmooren
der deutschen Mittelgebirge und den Mooren der bayrischschwäbischen
Hochebene. Uebrigens liefern sie jetzt auch
die grossen Gärtnereien auf Wunsch. Ein solches Sonnen-
taupflänzchen trägt an der Oberseite all seiner kleinen
schüsseiförmigen Blätter rote Wimpern, an deren Spitze
wirklich im Sonnenschein ein Tautropfen glitzert. Starr
und unbeweglich breiten sie sich aus wie Füllhörner. Es
ist freilich nur Einbildung, aber man glaubt es dem Pflänz-
chen anzusehen, dass es lauert. Und wirklich, wehe der
ahnungslosen Mücke, der begierigen Fliege, die an dem
verlockend glitzernden Tautropfen naschen will. Ihr
Köpfchen bleibt an dem zähen Schleim kleben; wo ihr
Füsschen mit einer der trügerischen Leimspindeln in Berührung
kommt, besudelt es sich immer mehr und bleibt
umso fester haften. Der Fühlhörner jedoch bemächtigt sich
inzwischen förmliche Aufregung. Schon nach wenigen Minuten
greifen sie, eine Reihe nach der anderen, langsam,
aber mit unfehlbarer Sicherheit nach dem Opfer, binnen
einer bis drei Stunden haben sich fast alle auf die unglückliche
Mücke gesenkt, deren Schicksal damit entschieden ist.
Handelt es sich um ein grösseres Insekt, um eine Ameise,
ein Spinnchen, einen Käfer oder einen Tausendfuss, so rollt
sich auch noch das Blatt fest ein, um sich die Beute zu
sichern. Und gelangt durch einen Zufall eine schon etwas
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