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Foges: Unerhörte Pflanzenwunder.
III
matt gewordene Libelle oder ein Schmetterling in die
„Fühler" der Mordpflanze, so geschieht das Unglaubliche,
dass auch die anderen Blätter „den Braten wittern", sich
herbeineigen, gewissermassen nach der Beute greifen und
sich gegenseitig bei der schweren Arbeit der üeberwältigung
aushelfen. Ist sie gelungen, dann folgt das Mahl. Nach
aussen verrät es sich freilich durch nichts, aber wenn nach
einigen Tagen die Tentakeln (man nennt sie wirklich so)
loslassen, das Bratenschüsselchen sich glättet, so findet sich
nur mehr ein dürres Skelett, das der Wind wegweht,
Fleisch und Blut sind ausgesogen, — die Tentakeln sind
nicht nur Zungen, sondern auch Magen zugleich. Als man
das scheinbar Unbegreifliche näher untersuchte — der unermüdliche
Darwin leistete auch hier die Hauptarbeit —,
fand man, dass alle diese fleischverdauenden Pflanzen einen
Saft ausscheiden, der unsere eigene Verdauungsflüssigkeit,
Pepsin, enthält, mit der sie die Leichen reichlich umziehen,
die sie aber genau so zurücksaugen wie unser Magen. Es sind
Wesen, die ihren Magen auf Stilen in die Luft strecken.
Noch ein Beispiel eines schleichenden Würgers und
Mörders aus der Pflanzenwelt: die jedem Forstmann bekannte
und als Baumverderberin von ihm verabscheute
Schuppenwurz. Wenn man den fahlen Blütenschaft
einer solchen Schuppenwurz aus dem Boden ziehen will,
entdeckt man erst, wie lang er sich unterirdisch hinzieht
— ein dicker Stengel, dicht besetzt mit fleischig - nuss-
farbigen Blättchen. Was sind diese Schuppen? Bei Licht
betrachtet: die raffiniertesten Mördergruben, die sich ersinnen
lassen. In der mikroskopischen Kleinwelt ist da das
kretensische Labyrinth verwirklicht, in dem der Minotaurus
baust. Jedes der Schuppenblätter enthält mehrere winzige
Höhlen, die mehrfach gewunden sind und nach aussen mit
einer kleinen Oeffnung münden. Der herrlichste Schlupfwinkel
für das Kleingetier des Humusbodens! Wer schon
einmal im Waldesschatten aufmerksam den Boden beobachtete
, weiss, wie dort alles lebt. Kleine, schwarze
Springschwänze hüpfen bin und her, Blattläuse und winzige
Spinnen kriechen bedächtig umher, Käferchen und Milben
strömen aus und ein aus den zahllosen Spalten und Rissen,
die da in das Erdinnere führen. Und wer einmal ein wenig
feuchten Waldhumus unter dem Mikroskop untersucht, sieht
ihn mit Erstaunen belebt durch Tausende von Rädertieren,
Bärtierchen, Fadenwürmern, Wurzelfüsslern, Infusorien und
Amoeben. Die Natur ist ja eben im kleinsten am grössten.
Und diese ganze wimmelnde Schar, deren einzige Lebensaufgabe
es ist, die Verwesungsstofie wieder in brauchbare
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