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166 Psychische Studien. XXXlll. Jahrg. 3. Heft. (März 1906.)
bekannt, und gewiss sah man darin kaum noch etwas ganz
Unerhörtes. Von der stets als verdächtig betrachteten Verfluchung
des Feigenbaums abgesehen, sind alle Wunder
Jesu durch den Wunsch veranlasst worden, aus Krankheit
und Not zu befreien. Besonderen Wert hat Jesus jedoch
niemals auf die Wunder gelegt. Als auch den Jüngern
Heilungen gelungen waren und sie ihm freudestrahlend darüber
berichteten, bemerkt er sehr kühl, sie würden
Grösseres als das erleben. Da nun aber einmal die
Wunderkraft Jesu nach allgemein angenommener Voraussetzung
den schlagendsten Beweis für seine Messiaswürde
bildete, so ist in der Ueberlieferung von seinem Leben auf
die Wunderberichte ein ganz besonderer Wert gelegt
worden. Es leuchtet dies auch aus den Evangelien,
namentlich aus dem vierten, ziemlich klar hervor. In
betracht dieses leiciit verständlichen Bestrebens und zugleich
auch des damals herrschenden naiven Wunderglaubens
liegt die Annahme nahe, dass nicht nur die Zahl
der Wunderberichte inzwischen vermehrt, sondern auch
manche Uebertreibung mit untergelaufen ist. Manche dieser
Erzählungen scheinen missverstandenen bildlichen Reden
ihren Ursprung zu verdanken. In der Apostelgeschichte
werden zwei Wundermänner erwähnt, Simon und Bar Jesu,
mit denen Paulus in Berührung gekommen ist. Das lässt
darauf schliessen, dass solche Goeten oder Zauberer in den
ersten nachchristlichen Jahrhunderten nicht eben selten
w&ren. Für die Christen insbesondere war es selbstverständlich
, dass die Fähigkeit zum Wundertun nicht auf
die ersten Jünger beschränkt bleiben konnte. Allen
Männern, die in den Ruf der Heiligkeit gekommen waren,
schrieb man die Macht, Wunder zu tun, olme weiteres zu
und dies sogar mit einem gewissen Eechte, wie später nachgewiesen
werden soll. Dass sich der herrschsüchtige Klerus
die Pflege des Wunderglaubens angelegen sein liens, der
ihm Einfluss und Gewinn verbürgte, versteht sich von selbst,
Dabei braucht gar nicht einmal an bewusste Täuschung
gedacht zu werden; bei dem damaligen Tiefstande naturwissenschaftlicher
Erkenntnis mögen die Priester selbst in
manchen seltsamen Vorgängen wirkliche Mirakel erblickt
haben. Auch heute noch mag dies bei der einseitigen Ausbildung
des Klerus da und dort der Fall sein; denn von
den gewaltigen Entdeckungen auf den naturwissenschaftlichen
Gebieten dürfte nicht überall ein Schimmer in die
Bildungsanstalten für Priester dringen. —
Obwohl die Reformation den wirklichen Wissenschaften
den Weg freigemacht hat, standen doch die Reformatoren
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