http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0184
168 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. S. Hett. (MUra 1906.)
funden, der ist tatsächlich noch sehr rückständig. Geradezu
komisch wirkt es, wenn diese Ignoranten auch noch da-
zu auf ihre Aufgeklärtheit, die sie an solche Ammenmärchen
zu glauben hindere, sich etwas einbilden. O sancta simpli-
citas! Auch der zählt zu den Unwissenden, der da wähnt,
die gewaltige spiritistische Bewegung in allen Ländern beruhe
auf blossen Hirngespinsten oder grober Täuschung.
Nein, so ist es wahrlich nicht. Vielmehr liegen wirklich
zumeist Tatsachen unbegreiflicher Art, und wären es nur
Wahngebilde Hysterischer, zu Grunde. Was dem Gebildeten
daran ganz verständlich ist, das hält der Ungebildete
eben schon für ein halbes oder ein ganzes Wunder.
Und was von dem oder für den gläubigen Katholiken zum
Mirakel gestempelt wird, das hält der Protestant oder auch
der aufgeklärtere Katholik für einen Beweis für das Eingreifen
der Geister in die irdischen Verhältnisse. Bei allen
kommt eine starke Dosis von Mystik, Seibstsuggestien
und Wundersucht hinzu, die auch das geringste ungewöhnliche
Ereignis zu einem Wunder aufbauscht Dass die
Wunder in gewissen Kreisen heute noch genau so bewertet
und verlangt werden, wie zur Zeit Jesu, lehrt u. a. der
neueste Roman von Antonio Fogazzaro „II Santo<\ Der
durch seine reformatorischen Bestrebungen bekannte Dichter
schildert u. a. eine Versammlung von gelehrten Geistlichen
zum Zwecke einer Gründung eines Reformbundes. (Es sei
noch bemerkt, dass Fogazzaro nicht etwa mit der Papstkirche
brechen will.) Dabei legt er dem freigeistigen Abb6
Marinier aus Genf die Worte in den Mund: „Die Individuen
, die Messiasse bringen die Wissenschaft, die Religion
vorwärts. Ist ein Heiliger unter euch? Wisst ihr, woher
ihr ihn nehmen sollt? Nehmt ihn, schickt ihn vor!
Glühendes Wort, grosse Nächstenliebe, zwei oder drei
kleine Wunder; suggeriert ihm, was er sagen soll,
und euer Messias wird mehr tun, als ihr alle zusammen.44
Wer Fogazzaro^ Landsleute so genau kennt wie er selber,
wird seiner Ansicht beipflichten, und wir werden nicht
irren, wenn wir eine Weltanschauung bei den ersten
Christen voraussetzen, die sich von der des niederen Volks
in Italien und anderswo kaum sonderlich unterscheidet
Wie leicht endlich noch heute Mirakel zustande
kommen, zeigt die Geschichte von Lourdes. Ein körperlich
und geistig zurückgebliebenes Mädchen sieht in einer Grotte
eine vornehm gekleidete Dame, Ein böser Mensch, aber
vielleicht doch ein zuverlässiger Gewährsmann, behauptet,
in der Grotte habe sich auch gleichzeitig ein Geistlicher
befunden. Wie dem auch sei: das hysterische, von der üb-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0184