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Nagel: Die bibl. Wunderberichte in okkultistiscker Beleuchtung. 169
liehen Gestalt der Himmelskönigin erfüllte Mädchen glaubt,
diese leibhaftig zu sehen. Kein Kundiger wird dies für
unmöglich oder unwahrscheinlich halten. Ebenso wenig,
dass an den nächsten Tagen, obwohl die Grotte wahrscheinlich
leer war, das Mädchen abermals Maria nicht nur sah,
sondern auch sprechen hörte. Derartige Vorkommnisse sind
bei Hysterischen gang und gäbe, wie jeder Arzt bestätigen
wird. Die Kranke selbst glaubt natürlich steif und fest an
die Tatsächlichkeit des in einer Vision Geschauten und
breitet voll Freude die Kunde davon aus. Für die bigotte
Landbevölkerung gibt es keine Zweifel in solchen Dingen.
Obgleich niemand sonst die Himmelskönigin gesehen hat,
schenken sie kritiklos den Berichten des Mädchens Glauben.
Fast wider Willen muss nun auch die Kirche, um die
Gläubigen nicht zu verletzen, auf die Sache eingehen; es
soll aber immerhin in diesem Falle mit einigem Widerstreben
geschehen sein. Sobald dann unter den ersten Besuchern
des neuen Wallfahrtsortes eine durch Selbstsuggestion
herbeigeführte Heilung festgestellt worden war,
rausste einfältigen Gemütern auch der letzte Zweifel an der
Wunderkraft des Ortes schwinden. Seltsam ist nur, dass
gerade das arme kranke Mädchen, das doch der ersten Erscheinung
gewürdigt worden war, in der angeblich von der
Himmelskönigin ihr bezeichneten Quelle Genesung nicht gefunden
hat. In einer Gerichtsverhandlung hat jüngst ein
Professor der katholischen Theologie in München feststellen
müssen, dass der Eock in Trier unmöglich von Jesus getragen
sein könne. Geglaubt wird es trotzdem, und in Zukunft
wird auch sicherlich trotzdem mancher Kranke noch
nach der Berührung des Bockes genesen. Je fester sein
Glaube, um so grösser die Wahrscheinlichkeit der Heilung.
Diese Beispiele veranschaulichen, wie unendlich leicht zu
allen Zeiten Wunder zustande kamen und mit welcher
Zähigkeit daran geglaubt wurde.
Nachdem hiermit ein Massstab gegeben ist für Entstehung
, Ausbreitung und Bewertung auch der biblischen
Wunderberichte, soll an einigen Beispielen nachgewiesen
werden, in welcher Weise die moderne Bibelforschung die
gesicherten Ergebnisse des Okkultismus, soweit sie von der
Wissenschaft anerkannt worden sind, zur Erklärung biblischer
Wunder benutzt hat. Ausserdem aber gedenke ich
zu zeigen, dass einige von der offiziellen Wissenschaft noch
nicht geaichte, darum aber nicht minder glaubhafte okkulte
Phänomene zu anderen biblischen Wundern überraschende
Gegenstücke bilden. Sollte später, wie es nach allen bisherigen
Erfahrungen höchst wahrscheinlich ist, die Wissen-
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