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250 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 4. Heft. (April 1906.)
Wer mit den Regeln des latenten Gedächtnisses
einigermassen vertraut ist und sich der früher beschriebenen
, einschlägigen Fälle erinnert, wird keinen Moment
im Zweifel sein, dass die merkwürdigen hebräischen
und literarischen Kenntnisse des Tisches in der Tat dadurch
erklärlich werden, dass irgend einer der Teilnehmer
einmal achtlos in dem Wichmann1 sehen Buch geblättert,
einige Einzelheiten darin flüchtig gelesen und im Unter-
bewusstsein behalten hatte, ebenso wie Helene Smith
die in dem früher 1. c. besprochenen Fall eine Stelle aus
dt Maries1 Werk im latenten Gedächtnis bewahrt hatte, trotzdem
dass ihr Oberbewusstsein sich in keiner Weise darauf
zu besinnen vermochte. Wie in diesem letzteren Fall alle
Fehler de Maries1 (falsche Jahreszahl, entstellter Name usw.)
vom Gedächtnis gleichfalls aufbewahrt und in der scheinbar
geisterhaften Kundgebung getreulich mitreproduziert
wurden, so wird auch in diesem von Aksakow mitgeteilten
Fall eben die aus Wichmann entnommene falsche Form für
„habbaca4* und vor allem der entstellte Name B. Cardosio
zum Verräter und zum zuverlässigsten Wegweiser in das
Labyrinth der unterbewussten Vorgänge. Ja, es kommt
noch ein weiterer Umstand hinzu, der den ohnehin lückenlosen
Beweis fernerhin stützt. In dem Wichmann1'sehen
Buche fand Aksakow nämlich noch zwei andere Zitate in
fremder Zunge, ein griechisches (rQ^yogei — Wache!) und
ein italienisches (il piü bei fior ne coglie = so bleibt das
Feinste), die wenige Tage nach der „emek habaecha"-
Sitzung von der Planchette gleichfalls diktiert und ohne
jeden Sinn und Zusammenhang mitten in die Unterhaltung
hineingeworfen worden waren.
Aksakow will zwar nicht zugeben, dass auch hier ein
Fall von latenter Erinnerung, eine „natürliche" Erklärung
anzunehmen sei („Dass das geschehen wäre auf natürlichem
Wege — aus direkter Lektüre — das einzuräumen verweigere
ich", S. 491); er nimmt zur Erklärung eine Art von
auch sonst oft konstatiertem Hellsehen an, die eine
Kenntnis des Inhalts eines nie gelesenen Buches ermöglichte
, und behauptet, wenn wirklich einer vor den betreffenden
Sitzungen das Wichmann1 sehe Buch in Händen gehabt
hätte, müsste er sich doch nachträglich daran erinnern,
wenn er darauf hingewiesen wird. — Wenn der unbefangene,
bezw. für die spiritistische Deutung nicht voreingenommene
Beurteiler auch zugeben muss, dass in den beiden genannten
Fällen die Erklärung durch Kryptomnesie die weitaus
nächstliegende ist, so steht doch andererseits für jeden
Kenner der einschlägigen metapsychischen Literatur ebenso
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