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266 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1906.)
sie zu finden. Manchmal erstreckt sich dieses Hellsehen
weit über die Grenzen des eigenen Körpers, Der Patient
macht verschiedene Mitteilungen über Orte, die er genau
beschreibt und über Ereignisse, von denen er sozusagen
Augenzeuge ist. Sein Wahrnehmungsvermögen ist räumlich
nicht mehr beschränkt durch die Wände des Zimmers,
in dem er sich befindet. Und doch liegt sein Leib schlaff,
gefühllos und in tiefem Schlaf versunken da: das ist der
Zustand des spontanen Somnambulismus.
Dieser Somnambulismus ist kein Zustand zwischen
Schlafen und Wachen. Nein, der leichte Schlaf nähert sich
dem Zustande des Somnambulismus.*) Die Eigenschaften
dieses letzteren werden also ohne Zweifel, wenn auch mit
Ausnahmen, im leichten Schlaf auftreten und die aus dem
Volksglauben nie ganz verschwundene Ueberzeugung, dass
der Mensch bedeutungsvolle Träume haben kann, ergibt sich
von selbst aus dem Umstände, dass der Somnambulismus
von dem Schlafe nur dem Grade nach verschieden ist.
Beide Zustände verraten ihre Verwandtschaft durch
eine Reihe gleichartiger Erscheinungen, die auch auf einen
Zusammenhang der psychischen Funktionen hinweisen. Sowohl
im Schlafzustande, als im somnambulen Zustand richtet
sich der Augapfel nach innen und in die Höhe. Das Bewegen
der Lippen und das Sprechen im Schlafe kommt oft
vor; die Somnambulen beschreiben ihre Visionen meistens
mit Worten und, wenn sie sich ausnahmsweise an etwas erinnern
, so sprechen sie davon, als ob es Träume wären,
wohl ein Beweis dafür, dass die Art der Wahrnehmungen
ähnlich ist. Die Gefühllosigkeit der Sinnesorgane im gewöhnlichen
Schlafe kann im somnambulen Zustande so intensiv
werden, dass kein Geräusch die Somnambulen zum
Erwachen bringt und sie die schwersten Operationen ohne
Schmerzen durchmachen.
Allein mit dieser Gefühllosigkeit ist keine Bewusstlosig-
keit verbunden; sie geraten in einen Zustand des Hellsehens
, in welchem sie im stände sind, das Innere ihres
eigenen Körpers wahrzunehmen und darüber Mitteilungen
zu machen. Es ist, als ob sie sich ausserhalb ihres Körpers
befinden. Herz, Lunge, Magen, Leber und Eingeweide
scheinen ein eigenartiges Licht auszustrahlen, wodurch sie
die Organe wahrnehmen können. Wenn sie die Namen derselben
nicht wissen, beschreiben sie deren Lage und
Aeusseres. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf
die kranken Teile, für deren Heilung sie die Mittel an-
*) Du Prel: „Die Philosophie der Mystik14, S. 38.
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