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Seiling; Die Kardinalfrage der Menschheit. 289
Surrogat des Fortlebens in ihren Nachkommen und Taten,
als vielmehr aus religiösen Nachwirkungen oder aus Antrieben
, deren tief liegende, über das irdische Leben hinausreichende
Ursachen jenen Edlen unbewusst bleiben.
Der Egoismus ist nun einmal - auch wenn er in ge-
läuterter Form als ^Selbstlosigkeit" mit der Förderung
fremder Interessen nur den eigenen Herzensfrieden anstrebt
— die Triebfeder alles moralischen Handelns.
Dass diese aber am stärksten durch die Vorstellungen vom
Leben nach dem Tode gespannt wird, liegt so sehr auf der
Hand, dass Pascal sogar sagen konnte: „Je nachdem wir an
ein ewiges Leben glauben oder nicht glauben, fallen unsere
Handlungen vernünftig oder unvernünftig aus." Und sehr
bedeutsam ist es, dass F. A. Lange, der intelligenteste Verteidiger
des Materialismus, als erste Bedingung für einen
neuen kulturellen Aufschwung eine „weltumfassende ethische
Idee" hinstellt, womit zugleich das wertvolle Geständnis
gemacht wird, dass der Materialismus eine solche
Idee nicht besitzt , sondern erst sucht. Welcher Gedanke
wäre aber weltumfassender, als der über den Tod hinaus
verlängerte Entwickelungsgedanke, der dem sonst so rätselvollen
irdischen Leben erst einen tieferen Sinn verleiht und
die Bestimmung des Menschen jedenfalls ganz ausserordentlich
erhöht? Schopenhauer wenigstens, dem der Entwickelungsgedanke
überhaupt ferne lag, weiss alslZweck
unseres Daseins nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis
, dass wir besser nicht da wären.
Dass auch wahre Religion mit dem Unsterblichkeitsgedanken
eng verknüpft ist, haben berufene Köpfe oft genug
ausgesprochen. Beispielsweise sagt Lessing: „Ohne den
Glauben an ein künftiges Leben kann keine Religion bestehen
;" und der grosse Religionsforscher Max Müller:
„Ohne den Glauben an persönliche Unsterblichkeit ist Religion
sicherlich wie ein Strebebogen, der nur auf einem
Pfeiler ruht." Welche Bedeutung aber die Religion — ihr
Wesen mag noch so verschieden aufgefasst werden — für
die Menschheit hat, glaube ich nicht erst auseinander setzen
zu müssen. —
Die Frage des Weiterlebens ist ferner sowohl für die
Optimisten, als auch für die Pessimisten von der grössten
Wichtigkeit Jene werden, falls sie nicht etwa die Anspruchslosigkeit
selbst sind, mit Nietzsche-Zarathustra sagen:
alle Lust will Ewigkeit! Und für die Pessimisten handelt
es sich entweder um die trostreiche Aussiebt auf einen
jenseitigen Optimismus oder um die beruhigende Gewissheit
der absoluten Vernichtung. Dass man bei fester Ueber-
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