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290 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1906.)
zeugung von dieser als Pessimist kein dauerndes Interesse
am menschlichen Tun und Lassen nehmen kann, ist
in schlagender W eise von dem ganz einzigartig dastehenden
Philosophen Mainländer bewiesen*) worden, der trotz seines
in Menschenliebe erglühenden Herzens der Sehnsucht nach
dem Tode schon im Alter von 34 Jahren nicht länger
widerstehen konnte, wie er denn auch mit seiner Lehre für
eine weitgehende Berechtigung des Selbstmordes eintrat.
Genug, welchen Standpunkt man auch einnehmen mag,
man muss es ehrlicherweise ganz unbegreiflich finden, dass
der heute noch sehr weit verbreitete Materiaiismus durch
den Mund seines Führers Haeckel verkünden lässt, der definitive
Verzicht auf den ünsterblichkeitsglauben würde für
die Menschheit -nicht nur keinen schmerzlichen Verlust,
sondern einen unschätzbaren positiven Gewinn" bedeuten
(„Die Welträtsel"). Auf diese wahnwitzige, von vollkommener
Blindheit zeugende Behauptung lasse ich zum
Ueberfluss einige sehende Geisteskämpen antworten, da ich
es für einen törichten Dünkel halte, mit anderen Worten
das zu sagen, was vorzüglich bereits ausgedrückt worden
ist 9 und da Aussprüche hervorragender Denker über die
„Kardinalfrage" dem Leser gewiss sehr erwünscht sein
werden. Also: „Es hat wohl niemals eine rechtschaffene
Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können,
dass mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Ge-
sinnang sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben
hätte" (Kant). „Nur dürre Doktrinäre, welche niemals in
und mit dem Volke gelebt haben, vermögen zu verkennen,
welch unermessliche und unerschöpfliche Wohltat für die
arme Menschheit der Unsterblichkeitsglaube war und ist.
Die wirklich Weisen aller Länder und Zeiten, Dichter und
Denker, Propheten und Politiker haben das wohl erkannt
.... Wenn die menschliche Zivilisation etwas so
Hehres und Herrliches ist, wie ihr sagt, wohlan, nur der
TJnsterblichkeitsglaube hat sie möglich gemacht. Dadurch
möglich gemacht, dass er den Geschlechtern der Menschen
die Hingebung^und Ausdauer verlieh, inmitten von all den
Bedrängnissen des Daseins ihre Arbeit zu tun" (Joh. Scherr).
„Eine Generation, die dem Unsterblichkeitsgedanken kühlen
Indifferentismus entgegensetzt, begibt sich damit des Anspruchs
auf wahre Kultur. Denn sie misst sich selber
keinen bleibenden Wert bei; sie hat nicht einmal das Bedürfnis
^darnach" (0. Ewald). Und Goethe, der „grösste
deutsche Denker", wie er von Haeckel genannt wird, kehrt
*) Ebenso in den vorigen Jahrgängen der „Psych. Stud.* von
unserem f Mitarbeiter v. Seeland. — Jßed.
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