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Seiling: Die Kardinalfrage der Menschheit,
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diesem den Rücken mit den Worten: „Ich möchte keineswegs
das Glück entbehren, an eine künftige Fortdauer zu
glauben, ja ich möchte^sagen, dass alle diejenigen auch für
dieses Leben tot sind, die kein anderes hoffen."
L
Richard Wagner, den ich für eine der grössten Offenbarungen
des deutschen Geistes halte, hat uns ebenso eindringlich
auf die Philosophie Schopenhauer% wie auf das
Christentum hingewiesen. Mögen diese beiden Weltanschauungen
auch dermassen harmonieren, dass Schopenhauer seine
Lehre, namentlich in ethischer Beziehung, die christlichste
unter allen Philosophien nennen konnte, so gehen sie hinsichtlich
der hier zu erörternden Frage doch sehr weit auseinander
. Während nämlich die individuelle Fortdauer
vom Christentum in extremster Form als Unsterblichkeit
der Seele gelehrt wird, ist sie mit Schopenhauer'* System
durchaus unvereinbar.
Wie ich sogleich zeigen werde, muss eine Auseinandersetzung
mit Schopenhauer, dem bedeutendsten Philosophen
des 19. Jahrhunderts, jeder weiteren Betrachtung unserer
Frage vorausgehen. Ich betonte soeben „System4', weil
Schopenhauer ausserhalb seines Lehrgebäudes manches Wort
fallen Hess, das zu Gunsten der individuellen Fortdauer
spricht. Als Systematiker hat Schopenhauer bekanntlich
Kant1* Lehre von der Idealität des Raumes, der Zeit und
der Kausalität mehr als dieser selbst zur Geltung gebracht
und überhaupt einen philosophischen Idealismus gelehrt
, der die Realität der Aussen weit kühn leugnet. Man
erwäge z. B. den Sinn der folgenden Worte: „Wer die
Idealität der Welt einmal begriffen hat, dem erscheint die
Behauptung, dass solche, wenn auch niemand sie vorstellte,
doch vorhanden sein , würde, wirklich unsinnig, weil sie
einen Widerspruch aussagt: denn ihr Vorhandensein bedeutet
eben nur ihr Vorgestelltwerden. Ihr Dasein
selbst liegt in der Vorstellung des Subjekts. Dies eben
besagt der Ausdruck: sie ist Objekt44 (Parerga: „Den Intellekt
betreffende Gedanken'*). Nach dieser ungeheuerlichen
Betrachtungsweise kommt natürlich auch den Individuen
keine Realität zu, wie es ja allein schon aus der
Idealität des Baumes folgt; denn, existiert der Baum nur
in meinem Kopfe, dann gibt es in Wirklichkeit kein Nebeneinander
und die Individuen sind nur Schein.
Die Frage, ob die Individuen wirklich oder nur scheinbar
existieren, muss begreiflicherweise vor allem beantwortet
sein, ehe man von einem individuellen Weiterleben
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