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292 Psychische Stadien. XXXIII Jahr*. 5. Heft. (Mai 1906,)
nach dem Tode reden kann. Es ist sehr merkwürdig, dass
Kant und Schopenhauer selbst oft genug Zeugnis dafür abgelegt
haben, dass ihr transszendentaler oder vielmehr absoluter
Idealismus nicht ganz fest begründet ist. Kant hat
ihn dermassen preisgegeben, dass er ganz allgemein den
überzeugten Auhängern des Glaubens an ein individuelles
Fortleben beigezählt wird. Auch Schopenhauer hat häufig
realistische Anwandlungen gehabt; spricht er schon in
seinem Erstlingswerk («Die vierfache Wurzel1* usw.) vom
„Weltganzen, als welchem dazu ein a b s o 1 u t o b j e k -
tives, nicht durch unsern Intellekt bedingtes Dasein beigelegt
werden muss", so hat er in späteren Jahren ganze
Abhandlungen geschrieben, deren Inhalt allein vom realistischen
Standpunkt aus Geltung haben kann. Von besonderer
Wichtigkeit für unsere Untersuchung ist nun aber
die folgende, in der Abhandlung „Zur Ethik" (Parerga II)
vorkommende Stelle: „Hieraus (aus der Notwendigkeit des
empirischen Charakters) folgt nun ferner, dass die Individualität
nicht allein auf dem principio individuationis beruht
und daher nicht durch und durch blosse Erscheinung
ist. sondern dass sie im Dinge an sich, im Willen des Einzelnen
wurzelt: denn sein Charakter selbst ist individuell.
Wie tief nun aber hier ihre Wurzeln gehen, gehört zu den
Fragen, deren Beantwortung ich nicht unternehme.11 Damit
ist die Möglichkeit einer individuellen Portdauer
zweifelsohne gegeben, wie denn Schoperhauer andererseits
auch die individuelle Präexistenz lehrt, wenn er bei der
Besprechung der Zeugung meint, dass die Eltern durch
den Lebenswillen eines neuen Individuums zusammengezwungen
werden, — womit er sogar am Grundstein
seiner Lehre, am blinden Gesamtwillen, rüttelt Der um
die Fesseln seines Systems sich nicht kümmernde Philosoph
schreibt ferner Sätze wie: »Zwischen Schlaf und Tod ist
kein radikaler Unterschied, sondern der eine so wenig wie
der andere gefährdet das Dasein", oder: »Wir haben gewacht
und werden wieder wachen; das Leben ist eine
Nacht, die ein langer Traum füllt, der oft zum drückenden
Alp wird" und gar: „Ich glaube, dass, wenn der Tod unsere
Augen schliesst, wir in einem Licht stehen, von welchem
unser Sonnenlicht nur der Schatten ist.a Schopenhauer^
idealistischesISystem darf uns also nimmermehr abhalten,
der Frage der individuellen Fortdauer näher zu treten. Es
ist mit den — man kann sagen: naturgemäss — mehr oder
weniger widerspruchsvollen Systemen überhaupt eine recht
missliche Sache. Der Wert der Philosophen liegt keineswegs
in ihnen, sondern vielmehr in den fruchtbaren Einzel-
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