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Seiling: Die Kardinalfrage der Menschheit.
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Wahrheiten, mit welchen sie die menschliche Erkenntnis bereichert
haben. Und von Schoperhauer gilt dies ganz besonders
. Sehr wahr hat daher JET. v. Stein gesagt: „Mir
scheint, was uns von Schopenhauer bleibt, ist kein Theorem,
es ist eine grosse Erhebung des Greistes." In gleichem
Sinne ist der Frankfurter Philosoph schliesslich wohl auch
von Richard Wagner hochgehalten worden; hat der Meister
doch selbst den mit Schopenhauer'8 System so innig verwachsenen
radikalen Pessimismus insofern abgelehnt, als er
an die Möglichkeit einer Begeneration des Menschengeschlechts
glaubte.
Ist denn nun aber — um dies nebenher noch zu berühren
— die ganze Lehre von der Idealität des Raumes
und der Zeit rur ein Hirngespinnst? Die einzige Lösung
dieses Problems, die mir annehmbar erscheint, ist die, dass
eine reale Aussenwelt und eine reale Entwickelung
existiert, und dass eben Baum, Zeit und andere Formen
und Funktionen des Erkenntnisvermögens nicht für die Erzeugung
der Aussenwelt, sondern lediglich für deren
Erkennbarkeit da sind.*) So ist z. B. die Zeit diejenige
Form unseres Intellektes, vermöge welcher wir das
Nacheinander wahrnehmen. Dass dieses Zeitmass subjektiv
ist und auch anders sein könnte, geht schon aus der Tatsache
hervor, dass wir im Traume in wenigen Minuten
Dinge erleben können, deren Abwickelung im wachen Leben
eine ungleich längere Zeit in Anspruch nehmen würde.
II.
Wenn ich mich jetzt anschicke, für den metaphysischen
Individualismus, insbesondere für die Fortdauer des individuellen
Selbstbewusstseins in die Schranken zu treten, so
bin ich mir wohl bewusst, dass mir keine eigentlichen
Beweise zur Seite stehen können; denn der
strenge Beweis gilt nur im Bereiche der Erfahrung, er
setzt die Verwirklichung des zu Beweisenden voraus. Dies
ist aber in unserem Falle für jeden noch Lebenden natur-
gemäss ausgeschlossen. Freilich, auf religiösem Wege ist
es denkbar, auch im Leben zu einer unumstössiichen Ge-
*) Diese Lösung fand ich in besonders glücklicher Form bei
dem leider nur wenig bekannten Philosophen Mainlander, dessen
Lehre ich in der Schrift „Mainlander, ein neuer Messias" (Th. Ackermann
, München) kurz dargestellt habe. Unbemittelten Interessenten
sende ich die Schrift gerne zu. (Meine Adresse: Pasing bei
München) — Hinsichtlich der Fortdauer befindet sich Mainländer
übrigens im Irrtum. Aber welcher Philosoph ist ganz frei von Irrtümern
l
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