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332 Psychische Studien, XXXIII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1906.)
sonst. Als man ihr die halbe Dosis geben wollte, wies sie
sie zurück und verlangte die ganze Quantität. Endlich gab
man ihr nach, worauf sie das Glas austrank, ohne dass
andere als die von ihr vorhergesagten Erscheinungen eintraten
. Die Seherin von Prevorst*) brachte einen an delirium
tremens Leidenden, den die stärksten Gaben Opium
nicht mehr beruhigten, in einen lang dauernden Schlaf durch
einen Aufguss von Lindenblüten, Birnensaft und Bibergeil.
Die von natürlichen Somnambulen vorgeschriebenen
Rezepte sind selbstredend durch keinen Rapport zu erklären.
Ebenso wenig ist daran zu denken, dass sie aus scharfem
Nachdenken hervorgehen; die eigenartige Zusammenstellung
und die Tatsache, dass sie sich oft Mittel verschreiben, vor
denen sie im Wachzustand einen Abscheu haben, spricht
dagegen. Eine Somnambule verschrieb sich Rhabarber und
sagte dabei, man solle ihr ihn am folgenden Tag mit Gewalt
eingeben, da sie einen so starken Ekel vor ihm habe.**)
Auch wissen die Somnambulen oft nicht einmal die .Namen
der Arznei und müssen ihre Zuflucht zu Beschreibungen
nehmen. Einst fragte Puysögur***) eine Somnambule, wie sie
wisse, dass eine Pflanze, von der sie gesagt hatte, wo sie
zu finden sei, heilkräftig sei, während sie nicht einmal deren
Namen kenne; sie gab ihm die Antwort, .,die Pflanzen, so
wie sie wachsen, haben keinen Namen, die Menschen haben
sie ihnen nur gegeben."
Der Somnambulismus bringt also neben einer physischen
Gefühllosigkeit ein psychisches Hellsehen hervor,
das nicht auf den Körper selbst sich beschränkt, sondern
nach der Weise, wie die Somnambulen ihre Heilmittel andeuten
— auf dem Lande, in einer von ihnen nie betretenen
Apotheke usw. —, zu Wahrnehmungen ausserhalb eines
von Wänden umschlossenen Raumes befähigt ist. Diese
Wahrnehmungen, deren Richtigkeit sich so oft gezeigt hat,
dass an ihrer Wahrheit nicht zu zweifeln ist, können nicht
mit Hilfe der uns bekannten Sinnesorgane geschehen; ja,
was mehr heissen will, sie scheinen völlig ausserhalb der
Hirntätigkeit zu fallen, weil die* Erinnerung daran nach
dem Erwachen ausbleibt. Der Somnambule erinnert sich
an seine eigenen Rezepte nicht. Sein Wachbewusstsein
schliesst sich ganz an das an, was vor dem Schlaf geschehen
ist, und wenn ihm je etwas von seinen somnambulen
*) Kerner \ „Die Seherin von Prevorst*, Rechm'sche Ausg., S. 195.
**) Heineken: „Ideen und Betrachtungen, den tierischen Magnetismus
betreffend/ S. 115.
***) De Pm/styur: „Recherches sur Thomme dans P<5tat du som-
nambulisme", S. 148.
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