http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0370
350 Psychische Studien. XXXIIL Jahrg. 6. Heft. (Juni 1906.)
dass es sich hier um ein durchaus Positives handelt, ist uns
zumal durch die Musik verbürgt, deren Sinn Heinrich Porges
so herrlich enthüllt hat, wenn er in seiner unvergleichlichen
Deutung der Tristan-Dichtung („Bayreuther Blätter" 1902
—1903) u, a. sagt: „3ie erscheint als wahrhaft unendliche
Melodie, nicht nur der Form nach, indem sie in rastlosem
Strome dahinfliesst, sondern ebenso durch ihren inneren Gehalt
. Es liegt in ihr ein Beichtum des Gefühlslebens, dass
fast in jedem Takte ein vorher nicht dagewesener neuer
physiognomischer Zug auftritt. Bei den Worten „In un-
gemess'nen Bäumen übersePges Träumen" fühlen wir uns
von den seligen Schauern eines ewigen Lebens durchhaucht.
Hier durchdringt sich das Gefühl einer erhabenen Wonne
mit dem glutvollen Wallen der wärmsten Herzensempfindung
. . . Alle Schranken der individuellen Existenz sind
für Tristan und Isolde geschwunden. Sie haben das Gefühl,
als wenn sie durch das Tor des Todes, durch die Nacht des
unbewussten Daseins, hindurchgegangen und zu einem neuen
ewigen Leben gelangt wären." Es ist ein sehr glücklicher
Gedanke von Porges, dass er das Beich des Unbewussten
als ein Durchgangsstadium zu einem höheren bewussten
Leben auffasst. Damit löst sich der Widerspruch, den man
darin finden könnte, dass das Beich des Todes an anderen
Stellen der immerhin von pantheistischem Geiste angehauchten
Dichtung als unbewusstes Dasein erscheint. —
Von entscheidender Bedeutung wäre endlich — falls man
geltend machen wollte, dass der Dichter mit dem Denker
vielleicht nicht immer Hand in Hand gegangen ist — der
„Parsifal", da er sich mit dem Inhalte der letzten Prosa-
Schriften seines Schöpfers vollkommen deckt. In diesem
seinem künstlerischen Vermächtnis lässt nämlich der Dichter
seinen Amfortas ausrufen: „Oh! der du jetzt in göttlichem
Glanz den Erlöser selbst erschaust." — Wer oberflächlich
genug wäre, zu vermuten, dass des späteren Wagner ausgesprochene
Hinneigung zum Christentum als ein Zeichen von
Senilität aufzufassen sei, der wäre daran zu erinnern, dass
wir einen ähnlichen Werdeprozess auch bei Goethe beobachten
können und dass der Künstler Wagner schon im
„Tannhäuser" und im Entwurf „Jesus" von Nazareth vollchristliche
Töne angeschlagen hat. —
Dass auch die sog. exakte Wissenschaft Ewigkeitsgedanken
durchaus nicht ausschliesst, das haben wahrhaft
grosse Naturforscher, wie Kopernikus, Galilei, Kepler und
Newton bewiesen. Franklin hat auf seinen Grabstein die
originelle Inschrift setzen lassen: „Hier liegt der Leib Benjamin
Franklin1*, eines Buchdruckers (gleich dem Deckel
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0370