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358 Psychische Studien. XXXIII« Jahrg. 6. Heft. (Juni 1906.)
mathematische Unendliche ist für ihn das zu lösende
Grundproblem und sein Resultat die Erkenntnis des sich
widersprechenden Charakters der reinen Vernunft des Absoluten
, d. h. der transszendenten Ursache der Welt des
Scheins, das jedoch in parallel verlaufenden Entwickelungs-
reihen zur Synthese, zur höheren Einheit aller Systeme
führt, nachdem aus ihnen die beschränkenden Sätze eliminiert
und nur die universellen beibehalten wurden. Die
Welt ist eine Welt von Gegensätzen; nun ist aber das Gesetz
des Zufalls das offenbare Gesetz aller Erscheinungen
dieser Welt, also erscheint die Ausdehnung dieses Gesetzes
auf die kontradiktorische Vernunft (im Sinne der Kant'sehen
Antinomien) gerechtfertigt, so dass man den „Gott Zufall"
geradezu als das hypostasierte Absolute bezeichnen kann.
Ein Dialog zwischen „N6gas" und „Militus", worin der
erstere diese Auseinandersetzungen als reinen „Neo-Nominalismus11
, d. i. als blossen Wortstreit, als geistreiches Spiel
mit abstrakten Begriffen bezeichnet, erbringt noch den geschichtlichen
Nachweis, dass seit der brahmanischen Tri-
murti (— Trinitas) und der Religion Zarathustrdz bis auf Hegel
und Nietzsche das menschliche Denken in der Hauptsache
immer in dieselben Bahnen kam und nach ungeheuren Zeiträumen
wieder den alten Kreislauf vollendete. Auch die
ältesten Theogonien, speziell die der Hindus, proklamierten
das Prinzip der Einigung der Gegensätze, und Musik
und Malerei sind, worauf schon ßernardin de Saint-Pierre in
seiner Studie über die Harmonie aufmerksam gemacht hat,
zwei Künste, durch die man experimentell die Lebenstätigkeit
und Unentbehrlichkeit jedes der entgegengesetzten
Elemente beweisen kann, die sich zu einer Synthese der
Gegensätze verbinden.
Jene kreisläufige Bewegung erklärt es auch, dass heutzutage
die schon für abgetan erklärten Zauberkünste des
Mittelalters (Astrologie, Alchemie, Bhabdomantie usw.) zu
neuem Leben erwacht sind. Alle diese Divinationskünste
beruhen auf einem Ausgleich des Gegensatzes zwischen
Freiheit und Determinismus (im voraus bestimmten Schicksal
) ; auch hier liegt die Lösung in einer Synthese der entgegengesetzten
Faktoren. — In einer Notiz über Karto-
mantie erzählt Verf. einen merkwürdigen Vorfall aus
seinem eigenen Leben. Sein Vater befand sich auf einer
Geschäftsreise in Spanien. Da er seit längerer Zeit nichts
von sich hören Hess, befragte seine Mutter in ihrer Unruhe
eine Karten schlägerin. Nachdem diese sie das Spiel mehrmals
hatte abheben lassen, bekam sie die doppelte An wort:
„Eine Ihnen nahe verwandte Person ist in diesem Augen-
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