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Merkwürdige Träume.
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Ein ganz merkwürdiger Fall soll sich einmal in Florenz
zugetragen haben. Da träumte es einem jungen Mann, er
sei von einem Löwen, der mit geöffnetem Rachen als Steinbild
vor einer Kirche stand, tödlich verwundet worden.
Er erzählte diesen Traum am andern Morgen einigen
Freunden, und lachend beschlossen diese, die Probe einmal
zu machen. Sie gingen zu der betreffenden Kirche und der
Jüngling stiess seine geballte Faust dem Löwen in den
Rachen, indem er ausrief: „Da, beiss* zu, Ungeheuer!"
Doch entsetzt und mit einem gellenden Aufschrei zog er
die Hand wieder zurück. Eine giftige Schlange, die in der
Höhlung versteckt gewesen war, hatte ihn gebissen und ihr
Biss kostete ihn das Leben. —
Des öfteren ist auch schon vorgekommen, dass Träume
Rettungsboten für andere Leute gewesen sind. In der
württembergischen Oberamtsstadt Tuttlingen träumte
es eines Abends einem alten Fischer, der eben in seinem
Lehnstuhl am Ofen etwas eingeschlafen war, er solle schnell
an die Donau gehec und bei einem gewissen Weidenplatz
sein Netz auswerfen, er werde dort einen grossen Fisch
fangen. Sofort tat er es, und richtig füllte sich auch mit
einem Mal sein Netz; doch kein Fisch wars, sondern der
sechsjährige Knabe seines Nachbars, der beim Spielen in
den angeschwollenen Fluss gefallen war. Der Knabe hiess
Johannes Henke und starb im Jahr 1841 als Missionar im
russischen Kaukasus. —
Etwas ähnliches trug sich nach wohlverbürgter Nachricht
drüben in Amerika zu. Da träumte es einmal einem
Kapitän, namens Fount, in der Sierra Nevada, einem wild
zerklüfteten Felsengebirge, sei eine Gesellschaft von mehreren
Personen eingeschneit. Er beschrieb die betreffende Stelle
ganz genau einem alten Jäger, und dieser bemerkte, er
kenne die Gegend wohl, sie sei 35 Meilen von da entfernt.
Der wackere Kapitän beschloss nun sofort, dorthin eine
Expedition auszurüsten, und obwohl ihn seine Nachbarn
auslachten, so zog er doch mit ihr unter der Anführung
des alten Jägers aus, und richtig fanden sie auch an der
betreffenden Stelle eine eingeschneite Reisegesellschaft, die
sie vom Tode erretten konnten. —
Am 25. März 1901 ereignete es sich, wie die Zeitungen
meldeten, dass die Frau des Schiffers Grassnick bei Berlin
mit einem Handwagen über Land gefahren war und abends
nicht mehr nach Hause kam, sondern spurlos verschwunden
blieb. Einige Tage darauf träumte es nun ihrem 15jährigen
Sohn, die Mutter sei dreissig Schritte von der Landstrasse
entfernt im Walde von zwei Männern überfallen und er-
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