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Seiling: Die Kardinalfrage der Menschheit. 401
IL Abteilung.
Theoretisches und Kritisches.
Die Kardinalfrage der Menschheit
Von Hofrat Prof. a. D. Max Sellin^«
(Fortsetzung von Seite 353.)
III.
Von den vielen Gesichtspunkten, die sich für die
eigentliche Begründung der Lehre von der individuellen
Portdauer aufstellen lassen, sollen hier nur die wichtigeren
zur Sprache gebracht werden. Zunächst fragt es sich, ob
das, was gemeinhin als Seele, bezw. Geist (denkende
Seele) bezeichnet wird,* etwas Selbständiges, oder ob es
nur eine „Summe von physiologischen Funktionen" ist. Wer
sich um Erkenntnistheorie gekümmert hat und nicht von
allen Göttern verlassen ist, hat von der Ursprünglichkeit
und Selbständigkeit des Geistes eine so feste Ueberzeugung
gewonnen, dass er sich immer wieder mit Lotze („Mikrokosmos
") sagt: „Unter allen Verirrungen des menschlichen
Geistes ist diese mir immer als die seltsamste erschienen,
<3ass es dahin kommen konnte, sein eigenes Wesen, welches
er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln oder es
sich als Erzeugnis einer äusseren Natur wieder schenken
zu lassen, die wir nur aus zweiter Hand, nur durch
das vermittelnde Wissen eben des Geistes kennen, den
wir leugneten."
Da erkenntnistheoretische Studien nicht jedermanns
Sache sind und da das Denken der heutigen Menschheit
trotz der wissenschaftlichen Ueberwindung des Materialismus
von diesem immer noch so durchseucht ist, dass selbst
klarere Köpfe sich seinem Einfluss nicht ganz entziehen
können, mag in Kürze gezeigt werden, dass die materialistische
„Welt44 - Formel „Nur das Sinnliche ist wirklich" für
die Lösung unseres Problems nun und nimmer massgebend
ist. Viel eher lässt sich umgekehrt behaupten: was uns
durch die Sinne vermittelt wird, ist trügerischer Schein,
weil es dem Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Deshalb
sagt der mit Unrecht als „grosser Bealist" verschrieene
Goethe: „Die Gestalt dieser Welt vergeht; ich möchte mich
nur mit dem beschäftigen, was bleibende Verhältnisse sind."
Aber auch in anderer Hinsicht werden wir von den Sinnen
PsyeMscbe Studien. Juli 1906. 27
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