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Seiling: Die Kardinalfrage der Menschheit. 407
doch im Innern sich ganz und gar als der selbe, der man
war, als man noch jung, ja, als man noch ein Kind war.
Dieses, was unverändert stets ganz das selbe bleibt und
nicht mitaltert, ist eben der Kern unseres Wesens."
Ebenso zwingend spricht für die Selbständigkeit der
Seele der Umstand, dass gewisse Denkleistungen mit dem
materialistischen Aberglauben schlechterdings unvereinbar
sind. Abgesehen von der bereits erwähnten Fähigkeit des
Geistes, über die Sinne zu Gericht sitzen zu können, gibt
es noch andere Aeusserungen des Gedankenlebens, die nicht
der Sinnenwelt entstammen. Hieher gehört das Erinnerungsvermögen
und, im Grunde genommen, die ganze Mathematik
(der malhematische Punkt, die Linie, die Ebene
haben in der Sinnenwelt kein Ebenbild).*) Eine weitere
Denkleistung, welche der materialistischen Auffassung Hohn
spricht, ist das Urteil, insofern es sich bei ihm um ein
Vielerlei von Wahrnehmungen handelt, die nicht von
selbst zu einem Gesamtbild zusammenfliessen können;
mit anderen Worten: die Einheit des Urteils kann — unbeschadet
einer Mehrheit von untergeordneten Bewusstseins-
sphären — nur von einem einheitlichen Beobachter,
nicht von einer Summe einzelner Gehirnfunktionen vollzogen
werden. Dieser Punkt ist namentlich von Teichmüller
in seinem Buche „Ueber die Unsterblichkeit der
Seele", einer der besten Arbeiten über unsere Frage, in
sehr helles Licht gerückt worden, während die Einheit
des Bewusstseins im allgemeinen schon von Latze, besonders
im „Mikrokosmos", als schwer wiegendes Argument
für die Selbständigkeit der Seele vorzüglich bereits
verwertet wurde. Eine andere Leistung, die sich
aus einem rein physiologischen Seelenleben nicht erklären
lässt, ist die unter dem Namen Kopfuhr" bekannte
Erscheinung. Es gibt Menschen, die zu einer bestimmten
Minute erwachen, wenn sie sich vor dem Einschlafen
diese Autosuggestion geben. Dies setzt notwendig
ein einheitliches selbständiges Ich voraus, das während des
Schlafes wach bleibt, die Erinnerung an die Autosuggestion
bewahrt, den Ablauf der Zeit überwacht, sowie den Willen
und das Vermögen hat, das Erwachen zu veranlassen. —
*i Dass eben deshalb die Mathematik, obschon sie den Menschen
am ehesten befähigt, den realen Verhältnissen der Aussenwelt
durch exakte Berechnung auf die Spur zu kommen, im Grunde die
subjektivste aller Wissenschaften ist und mit dem menschlichen
Idealisierungstrieb aufs engste zusammenhängt, hat Unterzeichneter
an anderer Stelle nachgewiesen. Vergl. unsere Fussnote
zu Seeland im Okt.-Heft v. J., S. 604. — Maier.
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