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Kurze Notizen.
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Leiche sei mehr und mehr eingetrocknet und eingeschrumpft.
Zwei weitere Jahre wurde die Leiche dann in einer Kammer
aufbewahrt, endlich wurde sie, „ganz leicht geworden", von
den Töchtern durch das Fenster hinaus dem Bruder gereicht
, der sie vergrub. Wie es scheint, hat der Gatte, als
seine Frau unvermutet gestorben war, angenommen, ihr
Geist sei wieder einmal „abwesend" und werde schon wieder
zurückkehren. Ausser den Kindern müssen übrigens
auch andere um den Sachverhalt gewusst haben; ihnen
allen scheint jedoch abergläubische Scheu den Mund geschlossen
zu haben, bis sich die Tochter endlich gedrängt
sah, das Geheimnis zu offenbaren."
h) Auf dem am 6* Juni er* in Jena von Prof. Dr.
Marnack - Berlin unter zahlreicher Beteiligung eröffneten
evangelisch-sozialen Kongress sprach. nach
dem mit lautem Beifall empfangenen Pastor Friedrich Naumann
, am zweiten Kongresstage Pfarrer D. Ritielmeyer-Nüm-
berg über „Der Jenseitsglaube und die soziale Arbeit". Er
führte aus: Eine entschlossene soziale Tätigkeit ist nicht
nur ohne Jenseitsglauben möglich, sondern der grosse Aufschwung
der sozialen Arbeit fallt zeitlich und ursächlich
mit dem Zurücktreten des Jenseitsglaubens zusammen. Der
Jenseitsglaube enthält in seiner vulgären Form allerdings
starke kulturhemmende Elemente. Die theoretisch ablehnende
Stellung der Sozialdemokratie zu diesem Jenseits-
glauben freilich ist mit praktischen Zugeständnissen an denselben
verbunden und trägt daher die Keime weiterer Auflösung
in sich. Andererseits ist es bis jetzt noch keiner
Ethik gelungen, ein wirklich befriedigendes innerweltliches
Kulturideal aufzurichten. Es gibt keine Kulturarbeit
ohne Transszendenz, d. h. ohne versteckte
Jenseitsgedanken. Der christliche Jenseitsglaube
geht übrigens nicht aus solchen Erwägungen
hervor, auch nicht aus dem egoistischen Wunsch nach Erhaltung
der eigenen Persönlichkeit, sondern aus einem religiösen
Erleben der höchsten Werte undZiele,
das im engsten Zusammenhang mit dem Gottesglauben
steht. Durch die gegenwärtige Krisis, in die er eingetreten
ist, wird der Jenseitsglaube allerlei Umbildungen erfahren,
unter denen dieEinsicht von einem irgendwie
bestehenden organischen Zusammenhang
zwischen Diesseits undJenseits die wichtigste
ist. Erst dann, wenn durch Erfahrungstatsachen diese Einsicht
in weite Volkskreise eingedrungen ist, wird der Jenseitsglaube
die in ihm vorhandenen sozialen Kräfte ungehemmt
entfalten, besonders indem er die sittliche Kraft
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