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De Premery: Anleitung zur Kenntnis des Spiritismus. 453
können. Am Sonntag Abend, den 13. Oktober, sah ich
während des ersten Liedes eine schwarze Gestalt rasch
durch das Seitenschiff gehen und beim Chor da Platz
nehmen, wo Frau A. am 29. September gesessen hatte. Wir
sassen auf der vordersten Reihe der Galerie. „Es ist
überraschend/1 sagte ich, als ich den Rücken der sich rasch
bewegenden, ganz schwarz gekleideten Gestalt sah, „wie
viel die von Frau A. hat. Aber sie kann es natürlich nicht
sein." Sie kehrte sich gerade um, um in die Bank zu
gehen. Es war Frau A.
Ich konnte es nicht begreifen. Sie hatte mir versprochen
, nicht zu kommen und seit den 18 Monaten, da
ich sie kannte, hatte sie meines Wissens ihr Wort niemals
gebrochen, Und wie schlecht sie aussah! Ihr Gesicht war
leichenblass. Sie war ganz schwarz gekleidet und trug
einen grossen, schwarzen Hut, den ich sie früher schon in
London hatte tragen sehen. Mein erstes Gefühl war un-
gläubige Verwunderung, mein zweites Aerger, dass sie ihr
Versprechen nicht gehalten und sich einer solchen Gefahr
ausgesetzt hatte; mein drittes aber war eine innere Unruhe.
Sie sah so elend und krank aus, dass ich überzeugt war,
sie werde steif und bewusstlos hinfallen, ehe der Gottesdienst
vorbei war. Da ich der einzige unter all den Leuten
var, der sie gut kannte und wusste, dass sie manchmal, steif
me ein Brett, bewusstlos dalag, konnte ich es nicht unterlassen
, bei mir zu überlegen, was ich tun wolle, wenn sie,
was ich sicher erwartete, in Ohnmacht fiele.
Während des Gesanges stand sie nicht auf, sondern
sass in der Bank in der Nähe des Seitenschiffes. Einer
der Kirchenbesucher bot ihr ein Gesangbuch an, das sie annahm
, aber nicht aufschlug. Dann gab ihr der Küster ein
Buch, das sie gleichfalls zerstreut annahm und auf das Pult
vor sich hinlegte. Sie sass während des ganzen Gottesdienstes
bis zum letzten Lied. Dann stand sie auf.
Während des zweiten und dritten Liedes hatte sie
dann und wann das Gesangbuch aufgehoben, allein sie
schien nicht zu singen. Während der Predigt hatte sie so bewegungslos
gesessen und so blass ausgesehen, dass ich
dachte, sie sei in eine ihrer Ohnmächten gefallen. Ich
suchte ihre Aufmerksamkeit zu erregen, allein sie gab kein
Erkennungszeichen. Die einzige Erklärung, welche ich mir
von ihrer Anwesenheit geben konnte, war die Annahme,
dass sie, in der Meinung, sie müsse jetzt sterben, ihr Versprechen
gebrochen und es gewagt habe, noch einmal einem
Gottesdienst beizuwohnen. Ich hätte mich dann auch nicht
gewundert, wenn sie die Kirche nicht lebend verlassen hätte.
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