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Reich: Gedanken über innere Kultur.
465
IL Abteilung.
Theoretisches und Kritisches.
Gedanken über innere Kultur.
Von Dr. med, et phil. Eduard Reich
zu Nieuport-Bains in Belgien.
Alle beseelten Wesen sind bei Ungunst äusserer Verhältnisse
und schlimmem Einfluss ihrer Mitgesehöpfe der
Gefahr ausgesetzt, abnorm sich zu entwickeln, mehr oder
minder aus der Art zu geraten. Dem setzt aber die sogenannte
heilende Kraft der Natur sich entgegen, welche bestrebt
ist, den normalen Typus zu erhalten und die geschehenen
Abweichungen wieder zu demselben zurück zu führen. Es
handelt sich hier von keiner Zauberkraft, sondern von der
gegen äussere Unbilden kämpfenden Seele und besonders
von deren bildendem Wollen, welches, gleich dem psychischen
, durch Handlungen sich ausdrückenden Wollen, die
Ausführung der Beschlüsse des Geistes und Gemütes besorgt
, des bewussten, wie des unbewussten.
Je mehr die Seele harmonisch ausgestaltet ist und je
natürlicher deren Verhältnis zu dem von ihr gebildeten
Organismus sich zeigt, desto grösser muss auch der Widerstand
sein, welchen sie ungünstigen Einflüssen entgegensetzt,
desto mehr muss das Aufkommen abnormer Zustände gehindert
sein. Fortschreitende höhere Entwickelung von
Seele und Organismus, wie Potenzierung des Verhältnisses
von Individuum und Mehrheit zu anderen Individuen und
Mehrheiten, ist Gesittung, und diese erscheint als innere und
äussere Kultur. Wenn beide Arten in rechter Proportion
sich befinden, die innere stets mächtig ist, harmonisch
bleibt und von der äusseren niemals zurückgedrängt wird,
braucht abnormes Sein, Entartung nicht gefürchtet zu werden
. Aber wenn umgekehrt äussere Kultur innere zurückdrängt
, dieselbe ausserdem zu einseitiger Pflege des Verstandes
und Willens in Botmässigkeit der Selbstsucht,
gleichwie zu Verödung des Gemütes verdammt, hört der
Widerstand gegen jene verderbenden Einwirkungen mehr
und mehr auf, sich zu betätigen, es kommen Abnormität
und Degeneration zu Tage und der Mangel wahrer innerer
Kultur wird zum Hemmnis des Eintritts allgemeiner Wohlfahrt
.
Psychische Studien. Augast 1906» 31
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