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472 Psychische Studien. XXXill. Jahrg. 8. Heft. (August 1906.)
notwendig und keiner darf ausgeschlossen werden bei Gestaltung
von Persönlichkeit und Staatsgesellschaft, und wer
den Versuch macht, einen auszuschliessen, beweist nicht
allein grösste Torheit, sondern erwirkt auch grösstes Unheil
. Dass dies in Wahrheit sich so verhält, beweisen Geschichte
und Gegenwart durch unleugbare Tatsachen.
In allen Universen und in den Staatsgesellschaften
aller Wesen, von den einfachsten bis zu den meist-
entwickelten, ist Achse, wie Ausgangs- und Endpunkt von
Leben und Entwickelung nur die Persönlichkeit. Demnach
wird dieser zuerst und zuletzt vollste Aufmerksamkeit zu
widmen sein, und es werden alle Probleme der Sozialpolitik
, Religion und Ethik als Probleme der Persönlichkeit
sich erweisen.
Auf jedem Gebiete der Natur- und Kulturarbeit ist es
die Persönlichkeit, welche dem Ganzen und jeder Einzelheit
ihr besonderes Gepräge aufdrückt und über den Portgang
der Entwickelung jeglicher Angelegenheit entscheidet, und
es muss Zivilisation ein Buch mit sieben Siegeln bleiben,
wenn nicht die Persönlichkeit nach jeder Richtung hin gekannt
ist. Darum auch werden Besserung und Neugestaltung
irgend welcher Art und irgendwo nur bei der Persönlichkeit
beginnen und auf dieselbe abzielen müssen. Und alle
Reformation gelingt und ist fruchtbar, wenn normale Zustände
von Seele und Organismus vorausgesetzt werden
können- Solche müssen demnach mit Aufgebot aller Kräfte
erstrebt werden. Hieraus nun ergibt sich die ausserordentliche
Bedeutung umfassender Hygieine für Sozialpolitik und
fortschreitend sich entwickelnde Zivilisation. Es kann hier
nur die Rede sein von umfassender Hygieine in meinem
Sinne, von der Hygieine als politisch - moralischer Wissenschaft
und innigst verbunden mit Moral und Religion, Ethik
und Politik, und von keine* anderen Hygieine, namentlich
nicht von jener der Vmsektoren und ferum spritzende«
Arzneikünstler.
Bei Betrachtung der Persönlichkeit muss auf viele
Punkte Gewicht gelegt werden, von welchen die gewöhnlichen
Schulen der Philosophen, Anthropologen und Soziologen
wenig handeln. Jede einseitige Auffassung ist sowohl
für Erkenntnis, als für Ausübung von Nachteil Unterlässt
man es, das soziale Medium genau zu studieren und das
Verhältnis der Persönlichkeit zu demselben zu ermitteln, so
kommt man niemals zu korrekten Vorstellungen der letzteren
. Immer ist es notwendig, für absolute Unantastbarkeit
des Individuums einzutreten, dessen Freiheit und materielle,
wie moralische Sicherheit zu beschirmen; denn opfert man
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