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Boich: Gedanken Aber innere Kultur.
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Freiheit und Sicherheit der Person, so schlägt man auch
Zivilisation und die höchsten Güter in die Schanze und
öffnet die Fluren dem Despotismus. Wer über die Begriffe
von Individualität und Persönlichkeit klar ist und weiss,
dass kein Individuum dem anderen gleicht, keines ersetzbar
ist, strebt gewiss nach jener höheren Gesittung, deren Politik
kein Einzelwesen opfert. Nur schlechte Politik und
halbe Wildheit vergreifen sich an der Person; gute Politik
aber gibt kein Wesen dem Unheil oder Untergang preis,
sondern ermöglicht jedem, glücklich zu werden und zunächst
seine irdische Bestimmung zu erreichen.
Schlechte Politik und verkehrte einseitige Erziehung
verderben und verstümmeln den Lebenslauf des Einzelwesens
, tragen zu dessen Entartung bei und machen aus
der Gesellschaft ein Ungetüm. Und die zur Karrikatur
gewordene Gesellschaft wirkt verpestend auf das Individuum
zurück. Darum muss das Einzelwesen dem Einfluss verderblicher
Politik entzogen werden und sich selbst entziehen
durch Pflege aller guten Keime und Assoziation mit Nächsten
, welche gleichfalls das Beste wollen. Schlechte Politik
und verkehrte Erziehung greifen um so mehr Platz, je
weniger die sogenannten Aufgeklärton über Wesen, Ent-
wickelung und Endziele der Persönlichkeit aufgeklärt sind;
denn es ist begreiflich, dass derjenige, welcher in Unkenntnis
, Vorurteil, Hochmut, selbstsüchtigem Interesse die Beziehungen
der Persönlichkeit durch farbige oder bucklige
Gläser betrachtet und rechtschaffener Erfahrung sich widersetzt
, notwendig zu falschen Vorstellungen gelangen und,
nach denselben wirkend, Unheil anrichten müsse. Die erbärmliche
Staatskunst solchen Schlages achtet das Individuum
der nicht regierenden Klassen gleich Null und geht
damit um wie mit lebloser Masse. Wenn unter solchen
Umstanden zahllose Einzelwesen missraten, Feinde der Geschäft
werden und Schandtaten ausüben, so darf dies weder
Wunder nehmen, noch dazu verleiten, dem armen unglücklichen
Opfer die Schuld seiner antisozialen Handlungen aufzubürden
.
Es wird also höchst notwendig sein, die Persönlichkeit
nach allen Seiten hin genau zu studieren und deren Verhältnis
zu Staatsgesellschaft und Familie, Literatur, Kunst
und Wissenschaft, Weltweisheit und Religion, Kirche und
Erziehung, Politik und Geschichte, Nationalökonomie und
Rechtskunde, Moral und Ethik, sowie zu allen Teilen und
Ausführungen des Alltagslebens umfassend kennen zu lernen.
Man kommt, wenn dergleichen in erforderlicher Art, sowie
ohne Ueberhebung und vorgefasste Meinung geschieht, zu
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