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532 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 9. Heft. (September 1906.)
und von Frankreich gleichzeitig als „Spiritismus41 zuströmte,
war damals bei uns nur den im Materialismus eng befangenen
„Gebildeten" etwas Neues. Unserem deutschen
Volke waren und sind heute noch die Tatsachen, die dem
zu Grunde liegen, selbstverständlich, insbesondere
unserem Landvolk, soweit dies noch nicht durch die nivellierende
Kultur verödet ist. Aus Furcnt vor dem brutalen
Terrorismus der angeblichen „Kritik0 dieser kritiklosen
Verflachung leugnet auch der Mann de** Volkes sein intuitives
Wissen ab. Diese Not ward nun durch die amerikanische
und die französische Bewegung nur noch grösser;
denn kaum hat sich je der Aberglaube irgend eines Volkes
zu solcher Kritiklosigkeit fortreissen lassen, wie unsere „Gebildeten44
, die dem „Spiritualismus44 und dem „Spiritismus44
Heerfolge leisteten. Man kann wohl sagen, dass das
Hauptverdienst der 32 Jahrgänge der „Psychischen
Studien44 der Kampf gegen diese Kritiklosigkeit ist;
und zehn Jahre lang hat ihr ja darin auch die „Sphinx"
Beistand geleistet.
Doch verstärkte sich nur immer noch bisher der
Schleusen-Widerstand der Wissenschaft, der fachmännischen
Psychologen, Philosophen, sonstiger Gelehrten, der berufenen
und unberufenen Kritiker, gegen diesen Not-Ausbruch
des Hochwassers der Geisteswelt. Man spart nicht Ernst
und Scherz, nicht Wut und Spott, um ihn zu hemmen.
Sogar die Begründung wissenschaftlicher „Gesellschaften
für psychische Forschung44 hat es bisher nicht vermocht
, das Schleusen - Hindernis zu heben, nicht das Vorurteil
der wissenschaftlichen „Kritik44 zu brechen und der
Geistesflut die Bahn zu öffnen.
Wenn aber die Not am grössten, ist die Hilfe oft am
nächsten. Dass die übersinnlichen Erfahrungen sich ungeeignet
zeigten, als Kanal der Geisteswelt für das Triebwerk
der Wissenschaft und des Kulturlebens zu dienen,
liegt an ihrer Einseitigkeit. Unser Geistesleben fordert
sehr mit Recht, dass, wenn es eine neue Richtung nehmen
soll, dies nur durch eine allseitige Neubelebung
auf Grund des bisher erworbenen Wissens und Könnens
geschehe. Solche neue geistige Belebung muss die theoretischen
, sowie die praktischen Bedürfnisse befriedigen; sie
muss den wissenschaftlichen Anforderungen ebenso vollauf
genügen, wie den religiösen, und sie muss der systematischen
Forschung ebenso gerecht werden, wie sie in methodischer
Schulung jedem geeigneten Menschen eigene Erfahrungen
ermöglichen muss.
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