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Haenel: Zur Psychologie einiger aog. okkulter Phänomene. 543
fache Beobachtung lehrt, dass das, was sich an Bewusst-
seinserscheinungen vor unseren wachen Augen tagsüber abspielt
, nur ein minimaler Bruchteil dessen ist, was in dem
Magazin unseres Seelenlebens vorhanden ist. Wir sind leicht
geneigt, das, worauf jedesmal unsere Aufmerksamkeit gerichtet
ist, für das eigentlich und einzig Bewusste zu halten;
das was sich unter d er A ufmerksamkeitssch welle
bewegt, im Dämmer des Halb- und Unterbewussten, ist indessen
von einem ungleich grösseren Reichtum und zugleich
die Quelle der in der Tageshelle der Aufmerksamkeit erfolgenden
Bewusstseinsvorgänge. Jeder Traum zeigt uns
die Fülle von seelischem Leben, die an die Oberfläche
kommt, sobald die Kontrolle der Aufmerksamkeit wegfällt.
Auf diese Seelenkräfte wird man zurückzugreifen haben,
wenn man sich okkulten und spiritistischen Erscheinungen
gegenüber sieht, und von diesen seien hier einige näher ins
Auge gefasst. —
Wenn eine Anzahl von Gläubigen zu einer spiritistischen
Sitzung sich zusammenfinden, so ist in der Regel das erste
Zeichen, dass einer der Teilnehmer — oder vielmehr fast
stets eine Teilnehmerin — in sogenannten Trance-Zustand
verfällt. Die Betreffende bekommt einen veränderten, abwesenden
Gesichtsausdruek, schliesst meist die Augen, und
beginnt nun eigentümliche Reden zu führen oder Dinge zu
vollbringen. Was ist dabei mit ihr geschehen? Sie ist in
einen hypnotischen oder hypnoseartigen Zustand gekommen,
entweder durch den suggestiven Einfluss der Situation und
Umgebung oder durch sogenannte Autohypnose, das
heisst dadurch, dass sich die eigene Vorstellung, in jenen
besonderen schlaf artigen Zustand zu geraten, in die Tat
umgesetzt hat. Meist ist der Vorgang so, dass an einer
solchen Sitzung mehrere erprobte Mitglieder teilnehmen,
von denen das eine oder andere durch Erfahrungen und
Uebungen früherer Sitzungen Mediumeigenschaften gewonnen
hat, das heisst eine gesteigerte Sugg estibilität schon
besitzt. Es ist bekannt, in wie hohem Grade die Hypnoti-
sierbarkeit durch häufige Wiederholung gesteigert werden
kann. Auf den Neuling, besonders wenn er weiblichen Geschlechts
und deshalb von Natur unkritisch is+, macht unter
diesen Umständen eine in Hypnose befindliche Person einen
tiefen Eindiuck, und es dauert gewöhnlich nicht lange, bis
der Zeuge des Vorgangs sich selbst in ähnlicher psychischer
Verfassung befindet. Die starke suggestive Wirkung der
Demonstration einer hypnotisierten Person nutzen die Aerzte
ja systematisch aus, wenn sie zu Heilzwecken jemand, der
schwer zu beeinflussen ist, hypnotisieren wollen. Das Wesent-
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