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548 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 9. Heft;. (September 1906.)
Visitenkarte wurde das imaginäre Bild wiedererkannt. Die
Spiritisten konnten sich solche und ähnliche Tatsachen nicht
anders als durch eine „ideoplastisehe Kraft der Seele* erklären
; die Gedanken der Menschen sollten geistige Wesenheiten
darstellen, die unter Umständen Gestaltung und
Dauer erlangen können. Sieht man sich indessen die Versuche
genauer an, so kommt man bald zu einer natürlicheren
Erklärung. Es zeigt sich nämlich, dass sie um so
leichter gelingen, je unregelmässiger die Fläche ist, auf der
das vorgestellte Bild gesehen wird, und dass sie misslingen,
zum Beispiel der Vexierversuch mit der verdoppelnden Röhre,
wenn der Untergrund des Bildes ein absolut gleichmässiger,
etwa der blaue Himmel, ist. Was geht daraus hervor?
Für die hypnotisierte Person haben verschiedene Merkmale
des Untergrundes , sei dieser eine Wandtafel oder ein schein-
bar völlig gleichmässiges weisses Stück Papier, die Be-
deutung des vorgestellten suggerierten Bildes angenommen.
Letzteres erleidet die Veränderungen mit diesen Merkmalen
zusammen, weil es an sie gebunden ist. Sie gehen auch
auf eine scharfe photographische Platte über, ohne dass das
deshalb eine Geisterphotographie zu sein brauchte. Das
einzige, was an überraschendem übrig bleibt, ist also der
Umstand, dass die Hypnotisierten auch Unterscheidungsmerkmale
an Dingen wahrnehmen, wo uns dies bei der gewöhnlichen
Betrachtung unmöglich erscheint, also zum Beispiel
an den Rückseiten von Visitenkarten. Aber es bedarf
nur einer geringen Uebung und vermehrten Aufmerksamkeit
, damit jedermann dies Experiment nachmacht und ein
Fäserchen, eine feinste Unregelmässigkeit des Papiers, des
Randes, eine etwas bestossene Ecke oder ähnliches erfasst,
sich einprägt und wiederfindet. Und eingeübt sind jene
Medien, bei denen solche Versuche gelingen, alle. Wenn
jemand durch Uebung eine „Kennerschaft" auf irgend einem
(Gebiete sich erwirbt, so geschieht dies auch nur auf dem
Wege, dass bestimmte Sinne für feinste Unterschiede eine
gesteigerte Empfindlichkeit erlangen. Wenn auf der Getreidebörse
ein Händler eine Probe ungarischen Weizens von
einer solchen aus Gaüzien unterscheidet, die für den Durchschnittsmenschen
absolut die gleiche Beschaffenheit haben,
wenn der chinesische Teekoster die Ursprungsprovinz seines
Tees herausschmeckt und ein Weinkenner nicht nur die
Sorte, sondern auch den Jahrgang wieder erkennt, so wird
niemand dies auf übernatürliche Kräfte zurückführen wollen.
Auch die diagnostische Kunst des Arztes beruht ja zum
grossen Teile auf dem Wahrnehmen von kleinen und kleinsten
Abweichungen. Und selbst die alle diese Leistungen
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