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v. Binder-Krieglstdn: Das wandernde Skelett. 559
schnitt jenes Oafio liegen, und es ist Aussicht vorhanden,
sich ungesehen heranzupirschen. Und so wandere ich also
den Weg, den ich schon ein halbdutzendmal zurückgelegt
habe und der, wie bereits erwähnt, glatt ist wie eine
Marmorplatte.
Es ist inzwischen sechs Uhr geworden. Der Mond ist
sichtbar geworden - wir haben in wenigen Tagen Voll-
mond, und das flache Gelände ist auf Hunderte von Schritten
genau erkennbar. Da stört mich irgend etwas rechts
vorn. Es liegt mir ein wenig aus der Marschlinie, dieses
„Etwas11, das sich wie ein Ast dort auf dem weissen Sande
mit scharfen, schwarzen Schatten deutlich abzeichnet, und,
da ich noch einige Zeit genug habe und meine Enten nach
dem früheren Schrecken gewiss noch stundenlang im toten
Flussarm aushalten werden, so wandere ich durch den
harten, glitschigen Sand auf das unbekannte „Etwas" zu.
Es ist ein Skelett. Ein menschliches Skelett — ohne
Zweifel, nach den breiten Hüftknochen und den feinen
Schlüsselbeinen zu urteilen, von einem etwa sechzehn bis
zwanzig Jahre alten Weib. Nebenan liegen im Sande halb
vergraben die Schulterblätter, einige Rippen und im übrigen
ist das Skelett sehr gut erhalten und frisch. Die Rippen
hängen noch alle mit den Knorpeln fest, das tadellose Ge-
bis* ist vollzählig vorhanden, der glatt polierte und glän-
zende Schädel hängt noch fest mit den Nackenwirbeln zusammen
, und nur die Schulterblätter und Unterschenkel
fehlen — respektive sind losgerissen und liegen zwei Schritte
davon entfernt im Sande. Mit dem Gewehrlauf drehe ich
das Gerippe um und prüfe es mit all jener objektiven Aufmerksamkeit
, wie sie eben ein alter Kriegskorrespondent,
der mit solchem Anblick sehr vertraut ist, nur haben kann.
Und da sehe ich an den Beckenknochen noch Flecken —
braune Flecken von getrocknetem Blute, und kalkuliere,
dass es der Leichnam einer Ertrunkenen ist, der hier von
Aasgeiern und Schakalen frisch aufgefunden und zerwirkt
worden ist. Das kann aber doch nicht stimmen, denn:
erstens kenne ich diese Stelle genau und habe sie schon
ein halbdutzendmal gekreuzt, ohne diesem Skelett zu begegnen
, zweitens ist der Muss schon seit mehr als drei
Monaten von dieser Bank zurückgetreten, und drittens
kann der Tod jener Unglücklichen höchstens erst vor zwei
Wochen eingetreten sein.
Ertrunken kann sie nicht sein — auch nicht angeschwemmt
, da ja seit Wochen kein Wasser hier stand.
Eine Tote legen die Hindus aber nicht auf diese Sandbank
heraus, sondern verbrennen sie, selbst wenn sie keinen
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