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578 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1906.)
Auch die organisierende Lebenskraft ist, um wirken zu
können, an bestimmte Bedingungen gebunden. Man hat bei
Mumien aus den Pyramiden von Aegypten Getreidekörner
gefunden, die mindestens 3000 Jahre alt waren. Die
Körner waren nicht verdorben, da sie die vollständige Ab-
sehliessung davor bewahrt hatte. Man hat sie gesät und
sie keimten, wuchsen auf und trugen volle Getreideähren.
Die Lebenskraft, die im Samen schlummerte, hatte 3000
Jahre lang der Bedingungen, um zu keimen, ermangelt.
Allein der Samenkeim war nicht zerstört und kaum gaben
die feuchte Erde und die Sonnenstrahlen die nötigen
Existenzbedingungen, so ofienbarte sich die Kraft durch
ihre Tätigkeit. Der Wille zu wirken war aber schon vor
3000 Jahren vorhanden.
So wartet der Lebenskeim in dem Hühnerei bloss auf
die Wärme der Bruthenne, um sich zu einem Küchlein zu
entwickeln, und es kommt das Ei heraus, wenn es nur einige
Tage, nachdem es gelegt ist, der Bruthenne anvertraut
wird. Der Keim hat, trotz der Abkühlung des Eies, seine
Lebensfähigkeit behalten.
Je komplizierter indessen der Organismus wird, desto
mehr Schutz braucht der Keim, um lebensfähig zu bleiben,
das heisst um einen Angriffspunkt für die Lebenskraft zu
bilden.
Mag jedoch der Endpunkt der organischen Entwicke-
lung was immer für einer sein, so ist das Prinzip für alle
tierischen Organismen dasselbe. Unter dem Mikroskop
wenigstens ist kein Unterschied im Bau und in der äusseren
Erscheinung zu sehen. In dem kurzen Zeitabschnitt,
der für das Wachsen des Keimes bis zur ausgetragenen
Frucht nötig ist, werden alle Entwickelungsphasen von dem
Protoplasma aus der Urzeit bis zur Lebensform des Mutter«
tiers durchlaufen. In der Tragzeit wird von der Frucht
der ganze Weg der Evolution immer wieder zurückgelegt.
Die organisierende Lebenskraft hat das Protoplasma
zu immer feiner organisierten Endpunkten der Entwicke-
lung gebracht, bis sie in dem Menschen den höchsten materiellen
Ausdruck fand. Allein der Anfangspunkt eines
jeden Organismus, die Zelle, ist dieselbe jetzt wie vor Millionen
von Jahren, als die organisierende Lebenskraft die
Schöpfung des Ureis mit Hilfe chemischer und magnetischer
Tätigkeiten vollzog.
Seither haben die Lebensbedingungen sich geändert
und der Kampf ums Dasein hat andere Lebensbedingungen
gefordert. Allein die organisierende Lebenskraft hat sich
nicht bloss darein gefügt, sondern sie hat die veränderten
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