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Bälz: Besessenheit und verwandte Zustände. 601
das Schicksal Verstorbener zu erforschen u. s. w. Auch die
mystisch-religiöse Ekstase und der Stigmatismus, bei welchem
die Wundenmale Christi am Leibe gewisser Frauen sichtbar
werden, gehören hierher* Immer wird dabei der in der
Regel stark prädisponierte Mensch durch fremde oder eigene
Suggestion in einen hypnotischen, oft dem hysterischen ähnlichen
Zustand versetzt, mit Einengung oder Ausschaltung
einiger Gebiete des Nerven- und Seelenlebens und abnormer
Verschärfung anderer.
Ganz der schweren Hysterie ähnlich sind die oft epidemischen
, mit wilder Erregung, Krämpfen, Verzückung,
tollen Bewegungen verbundenen Zustände, wie sie sich in
Amerika und Europa noch neuerdings bei den „Revivals" der
Methodisten abspielten, und wie sie der Redner am Grabe
eines buddhistischen Heiligen in Japan in grosser Zahl beobachtet
hat. Bei einer solchen Epidemie in Paris, am
Grabe eines Priesters*) im Jahre 1731—1734, Hess sich
eine Frau mehrere Jahre nacheinander am Karfreitag ganz
in der Art Christi ans Kreuz nageln, ohne Schmerzen zu
äussern} so vollständig war ihre Anästhesie (Gefühllosigkeit
gegen Schmerz). Dass auch das Hexenwesen mit allen
seinen Greueln auf krankhafter Suggestion beruhte, ist klar.
Hier ging die ansteckende Macht der Suggestion sogar so
weit, dass sich Frauen und Kinder freiwillig vor Gericht
als Hexen und Verbündete des Teufels anklagten, obwohl
sie wussten, dass es für sie einen qualvollen Tod bedeutete.
Bei der eigentlichen Dämonenbesessenheit (auch im
neuen Testamente lautet der griechische Ausdruck „Dämon",
nicht „Teufel"!) erscheint plötzlich und anfallweise im
Körper des Menschen ein neues feindliches Ich, weiches
durch den Mund dieses Menschen redet, mit seinem Gehirn
denkt, durch seinen Körper sich bewegt und handelt.
Der Mensch besteht also jetzt aus einer körperlichen Person
und aus zwei „Seelen% die einander widersprechen und
sich bekämpfen. Diese feindliche fremde Macht erklärt
sich der Mensch als bösen Dämon, und zwar ist zu bemerken
, dass der Dämon immer die Form hat, die dem
religiösen und kulturellen Ideenkreis des Besessenen entspricht
. Daher ist er für den Christen der Teufel
(welcher übrigens eine Erfindung der Perser ist), in Ostasien
ist es der Fuchs. Dieser war dort ursprünglich
*) (Jeher die wunderbaren Begebnisse am Grabe des am 1. Mai
1728 verstorbenen jansenistischen Diakonus Franziskus von Paris
hinter der Kirche St. Medard berichtet ausführlich Vesme in seiner
„Geschichte des Spiritismus" (deutsch von Feilgenhauer) B. III, S,
37—43. — Red.
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