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652 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 11. Heft. (November 1906.)
die durch Vererbung überkommene, im Gegensatz zu der
durch eigene Erfahrung gewonnenen Einsicht oder Ansicht*)
des Individuums. —
Es ist nicht ohne Interesse, zu sehen, auf welchen
Wegen und Umwegen sich die abendländische Philosophie
zu jener einfachen und lichtvollen Auffassung des Begriffes
„Kollektivseele" durchgerungen hat, wie ihn die heutige
moderne Naturforschung herausgebildet hat, um so interessanter
, als trotz der verschiedenen Ausgangspunkte und
der ganz verschiedenen Deduktionsmethode das Ergebnis
im Grunde genommen mit der oben entwickelten Vedanta-
lehre übereinstimmt. Liegen auch die Wege, auf denen
die indische Philosophie zu den gleichen Anschauungen
gelangt ist, wie die europäische, nicht so offen vor uns, wie
jene andere, so wird doch auch hier das sehliessliche Ergebnis
erst das Resultat einer längeren spekulativen Ent-
wickelungsreihe gewesen sein. Je tiefer wir überhaupt in
die Geschichte des menschlichen Wissens und der menschlichen
Kultur eindringen, desto mehr werden wir inne, wie
sich die verschiedenen, räumlich und zeitlich getrennten
Kulturen doch gegenseitig (der Zeit nach natürlich nur die
ältere die jüngere) befruchtet haben, und wie oft bei zwei
ganz heterogen erscheinenden Kulturen die gemeinsame
Quelle, aus der beide geschöpft haben, bei näherem Zusehen
kenntlich wird. Es genügt, die Beziehungen der griechischen
Philosophie zu Aegypten, Babylonien und Persien zu erwähnen
, um auf einen Punkt hinzuweisen, von dem gleicherweise
orientalische wie occidentalische Weisheit und Erleuchtung
ausgegangen ist, gleich den mannigfaltigen
Strahlen der einen grossen Sonne.
Schon bei HerakUt dem Dunkeln finden wir die Seelen-
*) Ich sage mit Absicht: „Einsicht oder Ansicht", denn die
instinktiv gewonnene, d. h. vererbte Anschauung, braucht durchaus
nicht immer eine „einsichtsvolle* zu sein. So sehen wir z. B. durch
instinktiv überkommene Vorliebe für die Entwicklung gewisser, im
Kampf ums Dasein überflüssiger oder gar schädlicher Organe
manche Tierspezies sich selbst schädigen und schliesslich aussterben
. Die Kollektivseele ist mithin nicht nur die Abiagestütte
für alle de»* Art dienlichen Einzelerfahrungen, sondern das Substrat
für alle von den Gesamtvertretern der Spezies gewonnenen Eindrücke
und der so sich entwickelnden Art, darauf zu reagieren, also
sowohl im guten, d. h. der Entwickelung der Spezies förderlichen,
als auch im bösen, d. h. ihre Gesundheit schädigenden Sinne. Das,
worauf es hier ankommt, um das Wesen der Kollektivseele aufzuhellen
, liegt eben in der spezifischen Art der Gattung, individuell
Eindrücke zu empfangen und genereil die Art und Weise,
darauf zu reagieren, durch Vererbung weiter zu geben.
Freuamiberg.
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