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666 Psychische Studie*. XXXIII. Jahrg. U. Heft. (November 1906.)
nehmlich auf das Zeugnis der Sinne stützt, hat es die
Theosophie mit übersinnlichen Erfahrungen zu tun.
Sie behauptet, dass im Menschen innere Sinne entwickelt
werden können, mit denen die seelische und die geistige
Welt ebenso wahrgenommen werden, wie die körperliche
Welt mit den äusseren Sinnen. Demnach würde der Theosoph
sich zum Nichttheosophen ähnlich verhalten wie der Sehende
zum Blindgeborenen. Ist dieser zur Gewinnung einer Vorstellung
von der körperlichen Welt lediglich auf den Tastsinn
angewiesen, so erlebt der Sehende das Schauspiel der
Farben und andere, nur durch das Licht und das Sehen
vorhandene Verhältnisse. Wenn die Naturwissenschaft die
Möglichkeit des übersinnlichen Schauens bestreite, so sei
dies ebenso, wie wenn der Blinde die Aeusserungen des
Sehenden über die Farben für Phantastereien erklären
wollte. Die Richtigkeit dieses schon von Fichte im Hinblick
auf seine Lehre gebrauchten Vergleiches vorausgesetzt
, hat also die Wissenschaft von der Theosophie, nicht
aber diese von jener sich belehren zu lassen; denn über
die Wirklichkeit eines Vorganges entscheidet nicht derjenige
, der ihn nicht gesehen, sondern allein derjenige, der
ihn wahrgenommen hat.
Was zu Gunsten der Richtigkeit des erwähnten Vergleiches
spricht, ist der Umstand, dass zwischen den Ergebnissen
der Naturwissenschaft und den einschlägigen
theosophischen Anschauungen kein Widerspruch besteht,
gleichwie das vom Blinden mittelst des Tastsinnes Festgestellte
den Wahrnehmungen des Sehenden niemals widersprechen
kann. Das wichtigste Beispiel bietet die von
beiden Forschungsrichtungen anerkannte Entwicklungslehre,
welche jedoch von der Naturwissenschaft nur bezüglich
ihres Verlaufes in der physischen Welt überschaut
werden kann.
Der Unglaube hinsichtlich der von der Theosophie
behaupteten inneren Wahrnehmungsfähigkeiten bezeugt
lediglich die Beschränktheit seines Bekenners; darf dieser
doch höchstens behaupten, dass er bei sich ein höheres
Erkenntnisvermögen nicht bemerke und dass er über das
Handgreifliche hinaus nicht zu denken vermöge. Sich
selbst aber als den alleinigen absoluten Massstab für alles
Erkennen hinzustellen, ist eine Anmassung, die dem mit
höherem Erkenntnisvermögen Begabten das gleiche Lächeln
abgewinnen muss, wie das entsprechende Verhalten des
Blinden dem Sehenden. Die Tatsächlichkeit der von den
Theosophen mit Paulus behaupteten „verborgenen Weis-
heit" (1. Cor. 2,7) wird bestätigt von den Mystikern aller
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