http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0691
Solling: Ueber Theosophie.
669
(Wohnort E. v. Hartmann's) aus Versehen weggeblieben ist,
handelt es sich freilich mehr um Urteilslosigkeit, als um
Toleranz.*) Wie sollte es möglich sein, dass über den
grössten Denker von seiten eines Genialen das vernichtendste
Urteil gefällt wird, das die ganze Literaturgeschichte
aufweist? Dieses Urteil ist nämlich von Mainländer im
2. Band seiner „Philosophie der Erlösung" ausführlich begründet
worden. Jene theosophische Wertschätzung ist
umso auffallender, als E. v. Bartmann in seinem Buche
„Das ühristentum des neuen Testaments" zur oberflächlichen
Ansicht gelangt, dass die Lehre Jesu durchaus unzulänglich
sei.
Die insbesondere gegen den Materialismus geübte theosophische
Milde sticht nun aber sehr ab von der Stellungnahme
zu dem mit der Theosophie doch immerhin verwandten
Spiritismus und überhaupt zum Okkultismus im
Sinne du Prel's. Ist es schon merkwürdig, dass man diesem
so verdienstvollen Namen in der theosophischen Literatur
nur selten begegnet, so kann man sich nicht genug wundern,
dass Steiner die ganze Richtung du Prefs als „letzte Zuckungen
des Materialismus" für wertlos und verfehlt erklärt
(„Lucifer", Nr. 28). Es komme nicht darauf an, das Ueber-
sinnliche zu den äusseren Sinnen herabzuziehen, sondern
die inneren Wahrnehmungsfähigkeiten zu entwickeln. Seine
näheren Ausführungen hierüber schliesst Steiner mit den
Worten: „Es wäre eine Schwachheit, wenn man dem materialistischen
Zeitbewusstsein so entgegenkommen würde,
dass man ihm mit seinen Mitteln das Uebersinnliche
beweisen wollte. Man muss ihm vielmehr klar machen,
dass mit diesen Mitteln nichts Wahrhaftiges zu erreichen
ist." Gewiss, hellsehend wird man durch die Anstellung
von okkultistischen Experimenten nicht werden;
aber die Ueberzeugung von der Existenz einer übersinnlichen
Welt wird man durch sie hundertmal leichter
gewinnen als auf dem mühsamen Pfad der inneren Ent-
wiekelung. Und was insbesondere die Bekämpfung des
Materialismus betrifft, so kann ein halbwegs besonnener
Anhänger dieser Biertischphilosophie durch ein einziges
einwandfreies Experiment bekehrt werden, während eine
Entwickelung seiner inneren Sinne, da er nicht an sie
glaubt, von vornherein ausgeschlossen ist. Weit entfernt,
*) Wir selbst können diesem schroff absprechenden Urteil über
den „Philosophen des Unbewussten*, der mit keiner glänzenden
Dialektik gerade das psychologische Gebiet nicht zum wenigsten
reich befruchtet hat, nicht beipflichten. Vgl. unsere K. Not. «) des
Julihefts er., S. 437 ff. — Red.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0691