http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0738
710 Psychische Studien. XXXIII. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1906.)
banden, und wir sehen sie manchmal mit Staunen noch zu
später Zeit zum Durchbrach kommen unter völligem Widerspruch
mit der bisherigen Lebenslage der betreffenden Person
und ihrem früheren eigenen Verhalten.
Die Kollektivseele als allgemein wirkende Kraft steht
zwar auf einer Stufe mit der von allem Körperlichen ausgehenden
Schwerkraft oder dem im Pflanzen- und Tierreich
in die Erscheinung tretenden allgemeinen organischen Bildungstrieb
(Nisus formativus), und doch gehört sie insofern
einer höheren Ordnung an, als sie etwas Besonderes für
eine bestimmte Art leistet. Sie ist zu gleicher Zeit eine
aufnehmende, sammelnde, ordnende und weitergebende Stelle.
Es geht von ihr der Eindruck aus, als ob sie selbst intelligente
Schlüsse mache. Doch ist das eine Täuschung. Was
zur scheinbaren Schlussfolgerung führt, ist nichts anderes
als die Registrierung der am häufigsten gemachten Erfahrungen
oder der am tiefsten empfundenen Eindrücke der
Gesamtindividuen der gleichen Art, die sich in der Kollektivseele
zu einem Gesamteindruck, einer Gesamterfahrung
verdichtet und als Erbe auf die Nachkommenschaft überträgt
—
Ich sagte schon vorhin, dass die Hcrdenseele ihrem
Wesen nach unpersönlich sem muss und dass der Mensch,
soweit er Anteil an Gruppenforniationen hat, auch zu eben
so vielen Herdenseelen in Beziehung steht. Im menschlichen
Organismus mit seinem komplizierten Seelenleben
werden sich zahllose Kollektivseelen schneiden. Chatierji
scheint mir daher darin durchaus zu weit zu gehen, dass er
auf Grund der hohen geistigen Stufe des Menschen gegenüber
der Tierwelt das einzelne menschliche Individuum gewisser-
massen zum Haupte einer neuen Reihe von Herdenseelen
persönlicher Färbung*) machen will. Wenn wir das von
*) Loco citato pag. 67; „Die Verschiedenheit der Bedingungen,
welche die Arten erleiden, verändern beständig das Leben, welches
die Grundlage dieser Arten ausmacht; and diese Verschieden tlieh-
keit setzt sich durch die drei unteren Naturreiche fort, bis sie den
Menschen hervorbringt. Von diesem Augenblick an wird jedes
Wesen von einer eigenen Seele oder menschlichen Individualität
gebildet, welche unabhängig ihre Entwicklung fortsetzt, indem sie
sich zu verschiedenen Malen in einer Anzahl von Formen oder
Personalitäten kundgibt, welche je nach dem durch das Individuum
erreichten Fortschritt mehr und mehr vollkommen sind.
Dieses ist die äusserste Grenze der Unterabteilung und man kann
sagen, dass jeder Mensch in sich selbst eine Art, eine
Gattung ist." —
Vergleiche auch ^kokoro* von Lafcadio Heam, pag. 198: „Alle
Anschauungen über das Leben, die auf der Idee der Präexistenz
beruhen, alle diese Begriffe, die, wie sympathisch immer man ihnen
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1906/0738